Journalismus im Kollektiv (1982 bis 2012)
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Zeitworte: Verschwiegene Geschichte(n)
Zeitworte heißt eine kleine, aber feine Reihe des SüdwestRundfunks. Sie läuft jeden Morgen von 6.55 bis 7.00 Uhr in S2 Kultur und bietet »Miniatur-Essays« zu historischen Stichtagen mit aktuellen politischen Bezügen. Seit der Übernahme der Redaktion dieser Sendung durch Marie-Elisabeth Müller im November 2001 haben die Mitglieder des Rheinischen JournalistInnenbüros zahlreiche Zeitworte geschrieben, um an verdrängte, vergessene und verschwiegene Geschichte(n) zu erinnern. Die folgenden Zeitworte dokumentieren dies an ausgewählten Beispielen.
20.12.1901: Die dampfende Vorhut des weißen Mannes
Bau der Ugandabahn
Von Birgit Morgenrath
29.10.1905: Ein Leben für die Freiheit
Deutsche Kolonialtruppen töten Hendrik Witbooi
Von Birgit Morgenrath
1935-38: Das Kimberley-Projekt
Die gescheiterte Gründung einer jüdischen Kolonie in Westaustralien
Von Karl Rössel
31.1.1938: Australiens Aborigines fordern Bürgerrechte
Von Karl Rössel
1.7.1947: Flüchtlinge als politische Verschiebemasse
Gründung der Flüchtlingshilfeorganisation der UNO (IRO)
Von Albrecht Kieser
31.7.1948: Hitlers Erbe
Die (un-)aufhaltsame Karriere des Kriegsverbrechers Alfried Krupp
Von Karl Rössel
30.10.1961: Deutsch-türkische Anwerbevereinbarung
Was ist ein Türke in Deutschland wert?
Von Albrecht Kieser
19.8.1967: Vietnamkriegsgegner in Berlin verprügelt
Von Karl Rössel
11.9.1973: Militärputsch in Chile
Verdrängte Geschichte am Beispiel des 11. September
Von Karl Rössel
15.10.1987: Thomas Sankara, der revolutionäre Präsident Burkina Fasos, wird ermordet
Von Karl Rössel
24.9.1992: Der deutsch-rumänische Abschiebedeal
Das erste Rückübernahmeabkommen tritt in Kraft
Von Albrecht Kieser
19.7.1995: Wie viel Wahrheit verträgt das Land?
Gesetz über die Versöhnungskommission in Südafrika
Von Birgit Morgenrath
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20.12.1901: Die dampfende Vorhut des weißen Mannes
Bau der Ugandabahn
Von Birgit Morgenrath
»Strecke des Wahnsinns« wurde sie genannt, die Eisenbahnlinie, die Mombasa am Indischen Ozean mit dem Victoriasee in Ostafrika verbindet und die später bis in die ugandische Hauptstadt Kampala weitergeführt wurde. Wahnsinnig war dieser imperiale Großbau in den Augen der britischen Eroberer, weil die Bahn Unsummen verschlang und weil sie als gerader Schienenstrang durch die unbändige Wildnis Afrikas gezogen werden musste. Wahnsinnig war sie in den Augen der Kolonisierten, weil sie die Unterwerfung ihres Landes vollendete. Am 20. Dezember 1901 schlug man den letzten Schwellennagel in den Gleiskörper in Port Florence.
Die Ugandabahn war das eiserne Rückgrat der britischen Kolonialmacht während der Eroberung Ostafrikas. Die Bahn machte aus einem 600 Meilen langen Fußpfad ins Landesinnere eines weitgehend unbekannten Landes eine erschlossene Kolonie. Die vormals dreimonatige Reise bis zum Victoriasee dauerte nur mehr ganze drei Tage. 25 Jahre zuvor hatte der amerikanische Reporter Henry Stanley die für die Kolonialherren bedeutende Entdeckung gemacht: Im Victoriasee entspringt der Nil. Und den Nil wollten die Engländer nicht nur in Ägypten, sondern auch an seinem Oberlauf kontrollieren. Dazu mussten sie im Falle eines Kolonialkrieges – zum Beispiel mit den Franzosen oder Belgiern an der Ostgrenze Kenias – Truppen bis nach Uganda hinein transportieren können. Überdies war es ohne eine Eisenbahn unmöglich, das kenianische Hochland als Siedlungsgebiet für die englischen Kolonialherren zu erschließen.
Mit dem Bau der Bahn begann die Vertreibung zahlreicher kenianischer Völker von ihren Ländereien. Dabei schlugen die Briten die Aufstände der schwarzen Einheimischen gegen ihre Enteignung brutal nieder, so die Aufstände der Luo und Luhya, die der Nandi, der Kikuyu, der Embu und Gusii. Auch spielten die Engländer die Schwarzen gegeneinander aus. Auf diese Weise rekrutierten sie auch Soldaten und schwarze Lastenträger. Aber es fehlte besonders an ausgebildeten Bauarbeitern. Die wurden aus Britisch-Indien geholt. 1896 kam die erste Arbeiter-Armee: über 2.000 Lastenträger, Steinmetze, Schmiede, Schreiner und Schwellenleger – allesamt Vertragsarbeiter für jeweils drei Jahre. Insgesamt haben rund 30.000 indische Arbeiter unter unvorstellbaren Mühen die Lunatic Line, die »Wahnsinnsverbindung« gelegt. Durch völlig unwegsames, unbewohntes Gelände: durch die von der Tsetsefliege verseuchten Savannen, wo menschenfressende Löwen lebten, durch das vulkanische Gebirge des Rift Valley und schließlich durch mehr als 150 Kilometer Sumpfland. Voran die Kartierungstrupps, dann die Arbeiter, die den Busch beseitigten, Hügel abtrugen, Vertiefungen auffüllten und den Untergrund glätteten, schließlich die Trupps, die den Bahndamm aufwarfen, und am Ende die Schienenleger. All diese Arbeiter begleitet von Hunderten Trägern.
Unmengen von Baustoffen mussten von der Küste herantransportiert werden – das gelang längst nicht immer pünktlich. Statt der anvisierten 30 Lokomotiven kamen nur 15 zum Einsatz. Esel, Maultiere, Kamele und Ochsen mussten aushelfen. Unmengen von Trinkwasser und Nahrungsmitteln mussten in die Zwischenlager geschafft werden. Aber das afrikanische Land zeigte sich sperriger als erwartet. Sintflutartige Regenfälle oder Dürreperioden hielten die Bauarbeiten auf. Und vor allem Krankheiten rafften Lastenträger und Bauarbeiter dahin. Der winzige Dornenstich einer giftigen Wolfsmilchpflanze konnte sich innerhalb weniger Stunden lebensgefährlich entzünden. Viele Arbeiter litten unter der Ruhr, andere starben an Malaria, Cholera oder Pocken. Fast zehn Prozent der Arbeiter ließen bei den Bauarbeiten ihr Leben, über zwanzig Prozent wurden zu Invaliden. So zog die Eisenbahnlinie eine 930 Kilometer lange Blutspur durch das Land.
Ab 1900 galt es, die Steilabhänge des Rift Valley zu überwinden – in den Augen der Europäer eine technische Meisterleistung. Und nur so führte die Bahnlinie sie hinein bis ins fruchtbare Hochland – das neue Siedlungsgebiet der Weißen. Das armselige Warendepot enkare nyrobi – »kaltes Wasser« – entwickelte sich zum Sitz der Kolonialverwaltung und schließlich zur heutigen Hauptstadt Nairobi. Kein Wunder: Das wohltemperierte Klima des Hochlands ist für Europäer äußerst angenehm. Doch erst später etablierten sie sich dort. Als man die Opfer unter den Einheimischen vergessen hatte – die Zerstörung der afrikanischen Gesellschaften, die Zerstörung des Stammlandes der stolzen Hirten der Massai, das der Schienenstrang ein für allemal zerschnitten hatte.
Zwar war die Lunatic Line auch immer wieder auf Kritik bei der Opposition im Londoner Parlament gestoßen. Denn die Kosten schnellten auf über 10 Millionen Pfund Sterling. Aber letztlich hat sich die Bahn in den Augen aller im kolonialen Mutterland doch rentiert. Als stampfende und dampfende Vorhut des weißen Mannes in Ostafrika.
(Gesendet in S2 Kultur am 20.12.2001)
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29.10.1905: Ein Leben für die Freiheit
Deutsche Kolonialtruppen töten Hendrik Witbooi
Von Birgit Morgenrath
»Der Häuptling ist ein Mann von untersetzter kräftiger Gestalt und mag etwa fünfzig Jahre zählen«, schreibt der Mineraloge Dr. Schwarz 1888 in sein Reisetagebuch. »Sein Gesicht zeigt ganz den Hottentottentypus, vorstehende Backenknochen und kleine, geschlitzte Augen, daneben hat es aber doch etwas Besonderes: Ein Zug von Herbheit und Unnahbarkeit paart sich mit einem träumerischen und melancholischen, ja kindlich-weichen Ausdruck.«
»Der Häuptling« ist Hendrik Witbooi, ein außergewöhnlicher Anführer der Nama-Völker in Südwestafrika. Er kam vor 97 Jahren durch die Kugeln der Deutschen um. Als der Mineraloge Schwarz ihm seinerzeit versicherte, er suche nur nach Kupfer, antwortete Hendrik Witbooi: »Aber das ist mein Land und ich will mit dem weißen Manne nichts zu thun haben.«
Der Nama-Häuptling wurde in der Zeit geboren, als sich die Einheimischen auf dem Gebiet des heutigen Namibia heftig bekämpften: die schwarzen Rinderzüchter der Herero und die Nama, die von Süden her auf der Flucht vor den weißen Buren neues Land suchten. Die Nama des Witbooi-Clans waren von den Weißen Südafrikas stark beeinflusst. Sie waren getauft, trugen europäische Kleidung und kannten Feuerwaffen.
Auch Hendrik Witbooi war getauft. Ein Missionar machte ihn zum Kirchenältesten – und zum Mystiker, der dem göttlichen Auftrag folgte, sein Volk in das gelobte Land im Norden zu führen. In dieser Rolle bekriegte Hendrik Wittbooi jahrelang die Herero und andere Nama-Gruppen. Das war die Zeit, bevor die Deutschen Namibia zu ihrer Kolonie machten. 1884 hissten sie in der Hafenstadt Lüderitz die deutsche Flagge. Sie spielten die Einheimischen gezielt gegeneinander aus. Einige Völker ließen sich auf »Schutzverträge« ein, andere nicht. Hendrik Witbooi dagegen wahrte gegenüber den Deutschen strikte Neutralität. In einem Brief an ein anderes Nama-Oberhaupt analysiert er: »Wenn Leute eines Kapitäns mit Menschen eines anderen Kapitäns auf demselben Platz wohnen, so halten sie Frieden ... Sie stellen keine Gesetze gegeneinander auf über Wasser, Weide und Wege, um Geld daraus zu schlagen. Für jeden Reisenden, der durch unser Land kommt, halten wir diese Dinge frei zur Verfügung, sei er von roter, weißer oder schwarzer Farbe ... Die weißen Menschen aber handeln ganz anders. Ihre ... unbarmherzigen Gesetze bedrücken den Menschen von allen Seiten; sie kennen kein Gefühl oder Rücksicht darauf, ob ein Mensch reich ist oder arm. [Die Deutschen] geben vor, Euch vor anderen großen Nationen schützen zu wollen. Mir scheint aber, sie selbst sind die große Nation, die mit Gewalt in unser Land kommen will.«
Wenig später erfahren die Witboois diese Gewalt am eigenen Leib. Bei einem Angriff auf Witboois Residenz massakrieren die Deutschen Kinder und Frauen. Der Kapitän geht zum Guerillakrieg über. Er erhält immer mehr Zulauf anderer Nama. Ein Jahr nach dem Massaker haben der deutsche Feldherr Theodor Leutwein und Witbooi in einem unzugänglichen Gebirgsstock ihre Lager aufschlagen. Während sie beide aufrüsten, pflegen sie einen regen Briefwechsel. Der Major schreibt an den aufsässigen Kapitän: »Dem Deutschen Kaiser gegenüber bist Du nur ein kleiner Kapitän. Ihm Dich zu unterwerfen würde für Dich keine Schande, sondern eine Ehre sein.«
»Mein lieber Hochedler Herr Leutwein, Major!«, antwortet der Nama-Anführer. »Ich habe den deutschen Kaiser in meinem Leben noch nicht gesehen, deshalb habe ich ihn auch noch nicht erzürnt mit Worten oder Taten. Gott der Herr hat verschiedene Königreiche auf die Welt gesetzt und deshalb weiß und glaube ich, dass es keine Sünde und kein Verbrechen ist, dass ich als selbständiger Häuptling meines Landes und Volkes bleiben will ... Aber Sie sagen, Macht hat Recht, und ... darin stimme ich überein, dass Sie wirklich mächtig sind und dass ich nichts gegen Sie bin. Aber lieber Freund, Sie kommen zu mir mit Waffengewalt und haben mir erklärt, dass Sie mich beschießen wollen. So denke ich diesmal auch, wieder zu schießen.«
Aber diesmal wird Hendrik geschlagen. Er unterzeichnet einen Schutzvertrag und avanciert zum zuverlässigen Verbündeten der Kolonialmacht. Die raubt immer mehr Land und versklavt die Einheimischen. Bis sie aufbegehren. Auch Hendrik Witbooi, inzwischen 74 Jahre alt, greift erneut zu den Waffen – und eilt von Sieg zu Sieg. Am Ende kommt den Deutschen nur ein Zufall im Gefecht zu Hilfe. Am 29. Oktober 1905 wird Hendrik Witbooi verwundet und stirbt am nächsten Tag. Anderthalb Jahre später errichten die Deutschen endgültig ihre Herrschaft. 80 Prozent der Herero und die Hälfte der Nama waren erschossen, zum Verdursten in die Wüste getrieben oder in Konzentrationslagern dem Tod durch Krankheiten überlassen worden. Das Andenken an Hendrik Witbooi konnten die Deutschen nicht zerstören. Seit der Unabhängigkeit schmückt sein Porträt eine namibische Dollarnote.
(Gesendet am 29.10.2002)
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1935-38: Das Kimberley-Projekt
Die gescheiterte Gründung einer jüdischen Kolonie in Westaustralien
Von Karl Rössel
Das Kimberley-Plateau ist eine abgelegene, unwirtliche Landschaft im hohen Norden Westaustraliens. Hier leben nur wenige Menschen auf riesigen Schaf- und Rinderfarmen, 4.000 Kilometer von der australischen Bundeshauptstadt Canberra entfernt. Doch trotz oder gerade wegen ihrer Abgeschiedenheit waren die Kimberleys schon vor hundert Jahren als möglicher Zufluchtsort für verfolgte Juden im Gespräch, die sich in Ost- und Westeuropa antisemitischen Pogromen ausgesetzt sahen.
Die Antwort des Zionismus darauf war schon zu Beginn des 20. Jahrhunderts die Forderung nach einem jüdischen Staat in Palästina. Doch aufgrund der Opposition des Osmanischen Reiches und verschiedener arabischer Gruppierungen stand als zweitbeste Lösung die Gründung einer jüdischen Kolonie irgendwo in einer menschenleeren Gegend zur Diskussion.
1905 gründete ein britischer Gelehrter namens Israel Zangwill das Jewish Territorialist Movement und begann, in aller Welt nach unbewohnten Regionen zur Ansiedlung von Juden zu suchen, so auch auf dem dünn besiedelten fünften Kontinent. 1908 traf sich Zangwill mit dem damaligen Premierminister Australiens, Alfred Deakin. Aber dessen Regierung fürchtete offensichtlich einen autonomen jüdischen Staat auf australischem Boden, und so führten diese Verhandlungen zu nichts.
1935 startete Dr. Isaac Steinberg einen weiteren Versuch zur Gründung einer jüdischen Kolonie in den westaustralischen Kimberleys. Steinberg war eine schillernde Persönlichkeit: In Russland geboren, hatte er als Sozialrevolutionär gegen das Zaristenregime gekämpft und nach der russischen Resolution im Jahre 1917 das Amt des Justizministers in der Regierung unter Lenin bekleidet. Später überwarf er sich mit den Bolschewisten, wurde verhaftet und floh schließlich nach Deutschland. Als Hitler 1933 an die Macht kam, musste er wiederum die Flucht ergreifen und ging nach England. Dort initiierte er eine Kampagne zur Schaffung eines Zufluchtortes für die vom Nationalsozialismus bedrohten europäischen Juden. In den westaustralischen Kimberleys fand er drei Großfarmer, die bereit waren, ihm sieben Millionen Hektar Land zur Ansiedlung von 50.000 Juden zu verkaufen. Steinberg reiste mehrere Jahre kreuz und quer durch Australien, um für seinen Plan zu werben, stieß dabei allerdings auf vehementen Widerstand von vielen Seiten.
Zum einen lehnte die etablierte jüdische Führungsschicht in Australien sein Siedlungsprojekt ab. Die Zionisten unter den australischen Juden verfolgten weiterhin das Ziel, einen jüdischen Staat in Palästina zu gründen. Andere fürchteten, dass die Gründung einer jüdischen Kolonie in Australien dem Antisemitismus auf dem fünften Kontinent neuen Auftrieb geben würde. Tatsächlich gab es damals auch in Australien faschistische Organisationen wie die New Guard, die gegen die Juden hetzten.
Doch endgültig scheitern sollte das jüdische Siedlungsprojekt in den Kimberleys letztlich am Widerstand bürgerlicher Gruppen aus der Mitte der australischen Gesellschaft. Deren Sprachrohr war der Daily Telegraph. Mit einem Leitartikel am 10. Januar 1938 entfachte diese große australische Tageszeitung eine breit angelegte Kampagne gegen die Gründung einer jüdischen Kolonie im Nordwesten Australiens.
Diesem öffentlichen Druck beugte sich die australische Regierung im April 1938 bei der internationalen Konferenz von Evian, auf der Vertreter aus 32 Nationen über das Schicksal der jüdischen Flüchtlinge aus Nazi-Deutschland berieten: Mit dem Argument, die Zusammensetzung der »vorwiegend britisch-stämmigen Bevölkerung« auf dem fünften Kontinent nicht gefährden zu wollen, erklärte sich Australien lediglich bereit, im Höchstfalle 15.000 jüdische Flüchtlinge einreisen zu lassen.
Diese Zahl lag zwar noch über den Zusagen anderer Länder aus der Anti-Hitler-Koalition. Doch tatsächlich sollte Australien bis zum Kriegsende nur fünf- bis sechstausend Juden aufnehmen.
Niemand weiß, wie viele der sechs Millionen jüdischen Opfer des deutschen Faschismus möglicherweise hätten gerettet werden können, wäre die jüdische Siedlung in Westaustralien realisiert worden. Eine endgültige Absage erteilte die australische Regierung dem Initiator des Projekts, Issac Steinberg, erst im Jahre 1944, also zu einem Zeitpunkt, als die deutschen Massenmorde an den europäischen Juden auch auf dem fünften Kontinent längst bekannt waren.
(Gesendet am 10.1.2002)
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31.1.1938: Australiens Aborigines fordern Bürgerrechte
Von Karl Rössel
Als die Briten Australien kolonisierten, verübten sie einen organisierten Völkermord an den Aborigines, den traditionellen Bewohnern des fünften Kontinents. Bei zahlreichen Massakern und regelrechten Menschenjagden metzelten die Invasoren aus Europa alle Schwarzen nieder, die sie aufspüren konnten. Die Briten verteilten Mehl, das mit Zement gemischt war, an die traditionellen Bewohner des Kontinents, und Decken, die mit Krankheitserregern infiziert waren. Bis 1930 hatten die weißen Herrenmenschen die Zahl der Aborigines so von ehemals einer Million auf etwa 70.000 dezimiert. Prompt waren europäische Sozialwissenschaftler zur Stelle, um »das Aussterben« einer angeblich »minderwertigen Menschenrasse« festzustellen. Und britische Sozialarbeiter machten es sich zur Aufgabe – Zitat – »den Aborigines das Aussterben zu erleichtern«. Doch die Aborigines taten den Weißen diesen Gefallen nicht. Sie begannen vielmehr, sich politisch zu organisieren. Am 150. Jahrestag der europäischen Besiedlung Australiens trafen sie sich zu einer ersten Protestversammlung in Sydney und forderten die Bürgerrechte auch für Aborigines. Sie übergaben eine entsprechende Resolution an den damals amtierenden Premierminister, Joseph Lyons. Und dieser Tag, der 31. Januar 1938, markierte den Beginn der schwarzen Bürgerrechtsbewegung in Australien. Für die politischen Sprecher der Aborigines war es damals keineswegs einfach, zusammenzukommen. Denn von den weißen Farmern wurden Aborigines wie Leibeigene gehalten. Ihnen wurde vorgeschrieben, wen sie zu heiraten hatten, und Tausende Aboriginal-Kinder wurden ihren Eltern geraubt, um aus ihnen in Missionsstationen und weißen Familien kleine Christen zu machen. Aborigines galten als »Wilde«, und noch bei dem Festumzug zur Jahresfeier der Weißen 1938 mussten einige von ihnen nur mit Lendenschurz bekleidet und Speere schwingend vor 100.000 johlenden Australiern durch die Straßen von Sydney ziehen. Vor dem Gebäude, in dem am selben Tag die Bürgerrechtsbewegung gegründet wurde, waren Polizisten postiert, und Aborigines fanden nur durch den Hintereingang Zutritt. Weil sie damals ihre Wohnorte nicht verlassen durften, riskierten Delegierte von auswärts die Kürzung ihrer Lebensmittelrationen oder gar die Verbannung und damit die Trennung von ihren Familien. In ihrer Petition forderten die Aborigines damals Selbstverständlichkeiten wie das Wahlrecht und die Entlohnung ihrer Arbeit, denn von den weißen Farmern wurden die meisten nicht bezahlt.
Trotzdem sollte es noch Jahrzehnte dauern, bis den Aborigines diese grundlegenden Bürgerrechte zugestanden wurden. Im Zweiten Weltkrieg waren sie den Briten zwar als Kanonenfutter gut genug. Doch auch danach durften die schwarzen Kriegsheimkehrer weiterhin nicht in denselben Straßen und Häusern wohnen wie ihre weißen Kameraden. Um die australische Form der Apartheid anzuprangern, organisierten Aborigines Mitte der sechziger Jahre einen so genannten »Freedom Ride«, angeregt durch ähnliche Aktionen von Schwarzen in den US-amerikanischen Südstaaten. In einer motorisierten Karawane zogen sie über Land und verschafften sich demonstrativ Zutritt zu Schwimmbädern, Geschäften und Bars, die sie ansonsten nicht betreten durften. Dafür wurden sie von aufgebrachten Weißen beschimpft und bespuckt. Doch die gewaltsamen Reaktionen des rassistischen Mobs verschafften diesen Aktionen eine große Medienresonanz. Und so kamen erstmals auch weiße Fernsehkommentatoren zu dem Schluss, dass die Bedingungen, unter denen Aborigines leben mussten, »eine nationale Schande« seien.
Um ihnen endlich die bürgerlichen Grundrechte zuzugestehen, musste 1967 erst die Verfassung geändert werden. Bei dem entsprechenden Referendum votierten 90 Prozent der Australier dafür, auch den Aborigines endlich das Wahlrecht auf allen politischen Ebenen einzuräumen. Bürger zweiter Klasse blieben sie weiterhin. Noch heute leben die meisten Aborigines in Reservaten und städtischen Slums, und ihre Lebensbedingungen gleichen denen in Ländern der Dritten Welt. Ansprüche auf ihr angestammtes Land müssen sie in jedem Einzelfall juristisch einklagen. Und die australische Regierung lehnt es ab, sich für die Gräuel der zweihundertjährigen Kolonialgeschichte zu entschuldigen.
Im Jahre 2000 sollte Australien per Referendum endlich zu einer von Großbritannien unabhängigen Republik werden. Gleichzeitig sollten Geschichte und Kultur der Aborigines in einer Präambel zur Verfassung gewürdigt werden. Doch der konservative Premierminister John Howard sorgte mit einer pro-britischen Kampagne dafür, dass alles beim Alten blieb. Und so fungiert in Australien auch heute noch Queen Elizabeth als offizielles Staatsoberhaupt und als Vertreterin der britischen Krone, die den Völkermord an den Aborigines zu verantworten hat.
(Gesendet am 31.1.2003)
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Gründung der Flüchtlingshilfeorganisation der UNO (IRO)
Von Albrecht Kieser
Der Zweite Weltkrieg kostete nicht nur über fünfzig Millionen Menschen das Leben, er entwurzelte auch weitere fast neun Millionen. Die meisten von ihnen hatten die Behörden und Unternehmen im nationalsozialistischen Deutschland vertrieben oder verschleppt und als Zwangsarbeiter fern ihrer Heimat ausgebeutet. Am Ende des Krieges entstanden riesige Lager von displaced persons – verschleppten Menschen – in Zentraleuropa, viele von ihnen in Deutschland. Das Elend in diesen DP-Lagern war groß, viele Menschen waren von der Todesmaschine in den KZs gezeichnet oder durch die Zwangsarbeit in den deutschen Lagern ausgemergelt; überdies war die Versorgung unmittelbar nach Kriegsende katastrophal. Mit der Bewachung der Lager und mit dem Rücktransport der Verschleppten war weitgehend das Militär der Siegermächte beauftragt, das dafür weder ausgebildet noch darauf vorbereitet war. Eigentlich war eine internationale Hilfsorganisation für die Bewältigung dieser Aufgabe zuständig. Die Alliierten der Anti-Hitler-Koalition hatten sie schon 1943 geschaffen, zwei Jahre vor Gründung der UNO. Doch nur gestützt auf die Militärs war die »United Nations Relief and Rehabilitation Administration«, UNRRA, handlungsfähig. Bis Anfang 1946 gelang es UNRRA und den alliierten Militärs, über sieben Millionen Verschleppte in ihre Heimat zurückzuführen. Aber eben nicht alle. Etwa eine Million Menschen waren in den Lagern geblieben. Einige Hunderttausende hatten sich geweigert, in den Machtbereich der Sowjetunion zurückzukehren, andere waren vor stalinistischen Repressionen oder antisemitischen Attacken gerade von dort geflohen, außerdem warteten 170.000 Juden aus den Lagern auf eine Einreise nach Palästina.
Die UNRRA hatte kein Mandat, diese Menschen anderswo als in ihrer bisherigen Heimat anzusiedeln. Darauf hatten sich die Alliierten verständigt. Die Sowjetunion, Polen und andere osteuropäische Staaten forderten nachdrücklich, dass nun auch die restlichen displaced persons wenn nötig unter Zwang nach Hause sollten. Ihre Forderung begründeten sie damit, dass sie die Hauptlast des Krieges getragen und einen ungeheuren Aderlass an Menschenleben erlitten hatten, allein die Sowjetunion hatte 20 Millionen Tote zu beklagen. Außerdem vermuteten sie unter den Menschen in den Lagern zahlreiche Kollaborateure, die sie vor Gericht bringen wollten. Die US-amerikanische Regierung kritisierte die gewaltsame Rückführung von Verschleppten und stellte 1946 die Zahlungen an die UNRRA ein. Das markierte das Ende dieser Organisation.
Statt der UNRRA sollte nun eine Sonderorganisation der 1945 gegründeten UNO die Flüchtlinge und Verschleppte betreuen. Zwar war die neue Organisation ebenfalls ausschließlich auf Betroffene in Europa beschränkt – aber die IRO, die »International Refugee Organization«, war mit einem weitergehenden Mandat als die UNRRA ausgestattet. Es umfasste auch die Ansiedlung in Drittländern und den völkerrechtlichen und politischen Schutz der »Entwurzelten«. Am 1. Juli 1947 begann die »Internationale Flüchtlingsorganisation« mit ihrer Arbeit.
Z.B. in Camp Wildflecken in Nordbayern an der Grenze zu Hessen. Ab 1947 betreute die IRO in diesem Lager bis zu 20.000 Menschen, die meisten von ihnen aus Polen. Obwohl die polnische Regierung mit großem Nachdruck die polnischen Bürger zur Rückkehr aufforderte und deswegen sogar eigene Beamte ins Lager schickte, versuchten die meisten, mithilfe der IRO nach Übersee auszuwandern. Die Zerstörungen, die Vernichtungslager der Nazis, die neue Unterdrückungspolitik, die antisemitischen Ausschreitungen in Polen – besonders die jüdischen DPs konnten sich dort keine Zukunft vorstellen. Die IRO schiffte sie zwar nicht nach Palästina ein, bot aber andere Zufluchtsländer in Übersee. Dazu stand ihr eine eigene Flotte mit vierzig Schiffen zur Verfügung, die die Migranten vorwiegend in die USA, nach Kanada oder nach Australien brachte. Entsprechend war der IRO-Etat von insgesamt 450 Millionen US-Dollar für Nachkriegsverhältnisse exorbitant.
Die Ostblockstaaten weigerten sich, an dieser Politik mitzuwirken. Sie kritisierten, dass ihnen durch die Migrationspolitik der IRO Arbeitskräfte entzogen und Kriegsverbrecher vor der gerichtlichen Verfolgung geschützt würden. Tatsächlich waren die westlichen Industriestaaten an den häufig gut ausgebildeten Arbeitskräften aus den Lagern durchaus interessiert; je nach konkretem Arbeitskräftebedarf meldeten sie bei der IRO ihre Vorlieben. Die IRO wurde denn auch von den Verantwortlichen als »internationales Arbeitsamt« bezeichnet.
Am 31. März 1952 wurde die IRO aufgelöst. Insgesamt gingen mit ihrer Hilfe über eine Million Menschen hauptsächlich nach Übersee, 73.000 Menschen wurden in ihre Heimatländer zurückgeführt. Die meisten der etwa 200.000 jüdischen DPs allerdings verließen ohne Hilfe der IRO die Lager, sie erreichten nur durch den Einsatz der jüdischen Hilfsorganisationen das Land, wo die meisten ihre Zukunft sahen: Palästina.
(Gesendet am 1.7.2002)
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31.7.1948: Hitlers Erbe
Die (un-)aufhaltsame Karriere des Kriegsverbrechers Alfried Krupp
Von Karl Rössel
Er war 35 Jahre alt, als er 1943 eines der größten Firmenimperien der Welt erbte: den Krupp-Konzern. Und kein geringerer als Adolf Hitler hatte mit einem Sondergesetz, der »Lex Krupp«, verfügt, dass er allein zum Inhaber dieses kriegswichtigen Unternehmens werden und den Namen Krupp vor seinem Familiennamen tragen sollte, sich also Alfried Krupp von Bohlen und Halbach nennen durfte. Eingefädelt hatte das alles sein Vater Gustav. Als Wehrwirtschaftsführer und Verantwortlicher für die »Adolf-Hitler-Spende der deutschen Wirtschaft« hatte er den Aufstieg der Nazis mit Millionensummen gefördert, um anschließend an ihren Rüstungsaufträgen Milliarden zu verdienen. Sohn Alfried übernahm ein Imperium, das auch und gerade im Krieg florierte. Aber im April 1945 war es mit der Kriegsherrlichkeit der Krupps zunächst vorbei. Truppen der Alliierten besetzten den Firmensitz, die Villa Hügel in Essen, und Alfried Krupp landete vor dem Kriegsverbrechertribunal in Nürnberg, von dem er am 31. Juli 1948 für schuldig befunden wurde. Denn er hatte sich an der Ausplünderung der von Nazi-Deutschland besetzten Gebiete beteiligt und Zehntausende Kriegsgefangene und KZ-Häftlinge als Zwangsarbeiter in seinen Rüstungsbetrieben ausgebeutet und zu Tode geschunden. »Zwölf Jahre Haft«, lautete der Urteilsspruch der alliierten Richter für Alfried Krupp, der dabei, so ein Augenzeuge, »nicht einmal mit der Wimper gezuckt« habe. Erst als die Richter zusätzlich den Einzug seines »gesamten Eigentums« anordneten, sei er »weiß wie ein Laken« geworden.
1945 waren noch alle Siegermächte dafür eingetreten, die deutsche Rüstungsindustrie ein für alle Mal zu zerschlagen. Doch als 1948 das Nürnberger Urteil erging, wurden nur Unternehmen von Krupp im Osten, in der sowjetisch besetzten Zone, beschlagnahmt. Die größten und wichtigsten Werke des Konzerns in den Westzonen wurden lediglich einer alliierten Kontrollbehörde unterstellt – so wie die westdeutsche Stahlindustrie insgesamt, die irgendwann entflochten und in kleineren Gesellschaften neu geordnet werden sollte. Das Eigentum der Altbesitzer blieb dabei unangetastet, und die Alliierten sagten ihnen sogar Entschädigungszahlungen für die Firmenteile zu, die sie möglicherweise würden abgeben müssen. Das galt auch für den Kriegsverbrecher Alfried Krupp, der am 31. Januar 1951, nicht einmal drei Jahre nach seiner Verurteilung, schon wieder auf freiem Fuß war, begnadigt von John McCloy, dem Hochkommissar der Vereinigten Staaten. Nach seiner Entlassung aus der Haft wurde Krupp auch sein gesamtes Vermögen wieder zuerkannt. Und der Kriegsverbrecher profitierte dabei sogar noch von der Währungsreform. Waren Millionen Sparern für je 100 Reichsmark nur sechseinhalb DM gutgeschrieben worden, so erhielt Krupp für jede Firmenaktie im Wert von 100 Reichsmark eine neue im Wert von 100 DM. Damit war Alfried Krupp, kaum aus dem Gefängnis entlassen, reicher und einflussreicher als je zuvor. Und er wusste seinen Einfluss zu nutzen. Im März 1953 versprach er den Westalliierten, bis spätestens 1959 seine Rüstungsbetriebe, die Zechen und Stahlwerke, zu verkaufen. Dafür durfte er über den Rest seines Firmenimperiums schon wieder uneingeschränkt verfügen. Diese Vereinbarung wurde in Mehlem bei Bonn sogar feierlich in einem Vertrag festgehalten. Nur dachte Krupp gar nicht daran, diesen einzuhalten. Er wartete das Ende des Besatzungsstatuts im Jahre 1955 ab, ließ danach den amtierenden Bundeskanzler Konrad Adenauer bei den Regierungen der USA, Großbritanniens und Frankreichs darum betteln, die Verkaufsauflage aus dem Vertrag von Mehlem endlich fallen zu lassen. Und 1959, als die von den Alliierten gesetzte und nie aufgehobene Frist ablief, stieß sich niemand mehr daran, dass Krupp tatsächlich keines seiner Stahlwerke abgestoßen, sondern sogar weitere hinzuerworben hatte. Die Zeiten hatten sich geändert. Zwischen Ost und West tobte der Kalte Krieg und im Kampf gegen den Bolschewismus waren auch die Erfahrungen alter Nazis gefragt: in der Bundesregierung, in der neu gegründeten Bundeswehr und in der Industrie.
Wie sein Vater vom faschistischen Krieg, so profitierte Alfried Krupp von der Wiederaufrüstung. 1965 produzierte sein Konzern schon doppelt so viel Stahl wie zu Beginn des Zweiten Weltkriegs. 47.000 Arbeiter erwirtschafteten dabei einen Umsatz von 2,1 Milliarden DM allein in den kriegsrelevanten Betrieben, deren Verkauf die Alliierten verlangt hatten. Mit insgesamt 100.000 Beschäftigten und einem Gesamtumsatz von sechs Milliarden DM herrschte der Kriegsverbrecher Krupp sogar über die größte Einzelfirma der Welt. Und als Alleinaktionär war er niemandem Rechenschaft schuldig, keinem Teilhaber, keiner Aktionärsversammlung und keinem Aufsichtsrat, ganz so wie es schon Adolf Hitler mit seiner »Lex Krupp« verfügt hatte.
(Gesendet am 31.7.2002)
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30.10.1961: Deutsch-türkische Anwerbevereinbarung
Was ist ein Türke in Deutschland wert?
Von Albrecht Kieser
Ein ordentlicher Vertrag wurde es nicht. Nur ein Notenwechsel zwischen deutscher und türkischer Regierung, noch dazu nicht öffentlich. Und doch hatte er weitreichende Folgen. Für Deutschland, für die Türkei und für die betroffenen Menschen sowieso. Die deutsch-türkische Anwerbevereinbarung, die am 30.10.1961 getroffen wurde, leitete die Migration von mehr als zwei Millionen Türken nach Deutschland ein und veränderte Deutschland zu einem Einwanderungsland.
Verträge zur Anwerbung ausländischer Arbeitskräfte gab es schon vorher. Sie waren 1955 mit Italien, 1960 mit Spanien und Griechenland abgeschlossen worden. Die Verträge sahen vor, dass die angeworbenen Arbeitskräfte bei Bedarf zeitlich unbegrenzt in Deutschland bleiben konnten und ihre Familien nachholen durften. Die Abmachung mit der Türkei legte das Gegenteil fest: Die Anwerbung türkischer Arbeitskräfte sollte auf zwei Jahre befristet sein, Familiennachzug war nicht vorgesehen. Das Innenministerium hatte diese Beschränkungen durchgesetzt. Es machte die Türken zu Migranten zweiter Klasse.
Die deutsch-türkische Anwerbevereinigung sah auch eine bis dato nicht übliche rigorose gesundheitliche Prüfung der potenziellen Arbeitskräfte vor. Dabei ging es nicht nur um die so genannte »Arbeitsverwendungsfähigkeit«, sondern auch um den »Schutz der Bevölkerung aus seuchenhygienischen Gründen«. Bloß: Entsprechende gesundheitliche Probleme gab es in der Türkei gar nicht.
Die Türken, die nach 1961 von der Deutschen Verbindungsstelle in Istanbul medizinisch untersucht wurden, haben diese Prozedur bis heute in unangenehmer Erinnerung. Nicht etwa einzeln wurden sie untersucht, sondern in Gruppen hatten sie sich nackt dem Arzt vorzustellen; der untersuchte auch After und Geschlechtsteile – im Beisein einer Frau, der türkischen Dolmetscherin. Ähnlich demütigend ging es weiter: Für die über 50-stündige Reise nach Deutschland stellte die Bahn nur Nahverkehrswagen zur Verfügung; an Schlaf oder auch nur entspanntes Sitzen war nicht zu denken. In Deutschland angekommen, wurden die Türken in ein unterirdisches Gebäude im Bahnhof München verfrachtet, einen ehemaligen Bunker. Die Bundesanstalt für Arbeit erklärte auf einer internen Besprechung, es sei nötig, die erschöpften Menschen den Blicken der Öffentlichkeit zu entziehen, weil sonst »der Eindruck eines Kriegszustandes bzw. eines Sklavenhandels« erweckt werden könnte.
Warum Deutschland überhaupt eine Anwerbevereinbarung mit der Türkei schloss, ist bislang nicht hinreichend erforscht. Die Dokumente der beteiligten Regierungsstellen warten noch auf eine wissenschaftliche Auswertung. Fest steht nur, dass die Türkei anderen interessierten Staaten vorgezogen wurde. Denn es herrschte Kalter Krieg, und die Türkei sollte im Zuge der so genannten »Eindämmungspolitik« eine wichtige Rolle im Kampf gegen den Kommunismus und den sowjetischen Block erhalten. Weil Deutschland traditioneller Bündnispartner der Türkei war, hatte die NATO die Bonner Regierung beauftragt, die damalige türkische Militärjunta verstärkt politisch einzubinden. Der türkische Staat wiederum hoffte, mit dem Export von Arbeitskräften die Arbeitslosigkeit im eigenen Lande zu senken. Außerdem ging man davon aus, dass die Migranten ihre Familien zu Hause unterstützen würden; das sollte den heimischen Devisenbestand erhöhen. Darum akzeptierten die türkischen Stellen die diskriminierenden Passagen der Vereinbarung. In der Annahme, sie nach und nach aufheben zu können.
Das gelang tatsächlich. Als erstes wurde die Befristung des türkischen »Arbeitseinsatzes« in Deutschland gestrichen. Denn die deutschen Unternehmen wehrten sich schon nach kurzer Zeit gegen das kostspielige Rotationsprinzip. Auch die Mehrheit der beteiligten deutschen Ministerien, das Außenministerium, das Bundesarbeits- und das Wirtschaftsministerium setzten sich für das Ende der zweijährigen Befristung ein; nur das Bundesinnenministerium hielt verbissen an der Regelung fest. 1964 wurde sie schließlich aufgehoben.
Neun Jahre später beschloss die Bundesregierung einen Anwerbestopp und beendete damit die staatlich geförderte Arbeitsmigration. Offen blieb nur noch der schmale Spalt Familienzusammenführung. Jetzt erst setzte ein Prozess ein, in dessen Verlauf die türkischen Migrantinnen und Migranten tatsächlich in Deutschland ankamen. Denn bisher lebten sie meist in firmeneigenen Wohnheimen, oft sogar hinter Stacheldrahtzäunen in Lagern, in denen vormals Zwangsarbeiter untergebracht waren. Jetzt wurden diese Unterkünfte geschlossen, die Türken wurden aus den Ghettos entlassen und mussten ihren Platz in der Gesellschaft finden. In dieser zweiten Phase der Migration – auf dem Wohnungsmarkt, im Einzelhandel, in der Gastronomie, im ganz normalen deutschen Alltag – sahen sich die Türken einer Welle fremdenfeindlicher Attacken ausgesetzt. Ganz im Geiste der deutsch-türkischen Anwerbevereinbarung, die den Integrationsprozess der Türken ein Jahrzehnt lang hintertrieben und behindert hatte. Wenn heute Türken und türkischstämmige Deutsche noch immer ausgegrenzt und rassistisch behandelt werden, sind dafür mitverantwortlich die Verfasser der deutsch-türkischen Anwerbevereinbarung.
(Gesendet am 31.10.2002)
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19.8.1967: Vietnamkriegsgegner in Berlin verprügelt
Von Karl Rössel
»Terror ist die gewalttätige Form des politischen Machtkampfes« und »Terrorismus« die »planmäßige Anwendung von Terror zur Erreichung politischer ... Ziele«. So jedenfalls steht es in der Brockhaus-Enzyklopädie. Nach dieser Definition gab es in der Bundesrepublik Terror und Terrorismus schon lange vor Gründung der Roten Armee Fraktion in den siebziger Jahren.
Zum Beispiel beim Staatsbesuch des Schahs von Persien im Juni 1967 in West-Berlin. Damals rekrutierte der persische Geheimdienst so genannte »Jubelperser«, die dafür bezahlt wurden, mit Holzknüppeln auf Demonstranten einzuprügeln, die gegen das diktatorische Schahregime protestierten. Das war der planmäßige Einsatz politisch motivierter Gewalt und damit – laut Brockhaus – »Terrorismus«. Trotzdem schwärmten keine Sondereinsatzkommandos aus, um die Täter dingfest zu machen, sondern die deutsche Polizei sah ungerührt zu und machte anschließend selbst Jagd auf demonstrierende Studenten. Ein Polizeiobermeister namens Karl-Heinz Kurras zückte dabei seine Dienstwaffe und streckte den Studenten Benno Ohnesorg nieder – per Kopfschuss von hinten.
Das war Gewalt »zur Unterdrückung von Opposition und Widerstand« und damit – laut Brockhaus – »Staatsterror«.
Wie der Staat so seine Bürger: Als am 19. August 1967, heute vor 35 Jahren, in West-Berlin eine US-amerikanische Militärparade stattfand, wurden Studenten, die dabei an den US-Bombenterror in Vietnam erinnerten, von Passanten brutal zusammengeschlagen.
Im Februar 1968 veranstaltete der Sozialistische Deutsche Studentenbund einen internationalen Vietnamkongress in West-Berlin. Die zum Abschluss geplante Großdemonstration gegen den Krieg wurde vom Senat zunächst verboten und schließlich nur in einem Außenbezirk genehmigt. Keine Einwände dagegen hatte der Senat gegen eine zweite Demonstration, die an diesem Tag stattfand, obwohl sie nicht einmal angemeldet wurde. Dabei konnten Hunderte Berliner ungestört über den Kurfürstendamm ziehen und zu Angriffen auf Rudi Dutschke und die Studentenbewegung aufrufen. Kein Ordnungshüter griff ein. Im Gegenteil: Innensenator Kurt Neubauer trat höchstpersönlich vor die Rathaustüre und bedankte sich bei seinen Berlinern »für ihren Bürgersinn«.
Drei Tage später organisierte der Senat selbst eine Großkundgebung für den Krieg der USA in Vietnam und gegen die Studentenbewegung. Zu der erdrückend großen Koalition, die dazu aufrief, gehörten alle etablierten Parteien von der CDU bis zur SPD, die Junge Union und die Jungsozialisten, die Berliner Tageszeitungen, die Gewerkschaften und der Deutsche Beamtenbund. Die Zentralvereinigung der Berliner Arbeitgeber forderte die Unternehmer auf, ihren Beschäftigten freizugeben, und auch die Mitarbeiter des öffentlichen Dienstes durften ihre Amtsstuben früher verlassen, um an der Kundgebung teilzunehmen. So kamen – je nach Quelle – 50.000 bis 150.000 Menschen auf dem John-F.-Kennedy-Platz zusammen. Auf handgemalten Plakaten standen Aufrufe wie »Bombardiert Nordvietnam« und »Weg mit Dutschke – Staatsfeind Nr. 1«. Die Redner ereiferten sich über »Revoluzzer«, die Berlins Straßen »immer und immer wieder« blockierten, und die Menge grölte Parolen wie »Rote raus aus West-Berlin«.
Worte, denen Taten folgten: So wurde der Verwaltungsangestellte Lutz Dieter Mende auf dem Kundgebungsplatz fast gelyncht, nur weil er eine entfernte Ähnlichkeit mit Rudi Dutschke aufwies, und Teilnehmer der Senatsdemonstration griffen noch 40 weitere Menschen tätlich an, etwa weil sie sich durch Fotoapparate »verdächtig« gemacht hatten oder längere Haare trugen. Berlins Bürger machten sich damals des öfteren einen Spaß daraus, Studenten an ihren langen Haaren zum Bahnhof Zoo zu schleifen, sie gewaltsam in eine S-Bahn zu setzten und mit dem Ruf »Geht doch nach drüben« nach Ost-Berlin zu schicken. All das war nackte Gewalt, und doch blieben die Täter fast immer unbehelligt.
So kam, was kommen musste: Am 11. April 1968 gab der 23-jährige Hilfsarbeiter Josef Bachmann in Berlin drei Schüsse auf Rudi Dutschke ab. Der Studentenführer wurde lebensgefährlich verletzt und starb wenige Jahre danach an den Spätfolgen dieses Attentats. Der Täter erklärte, die tägliche Lektüre der BILD-Zeitung habe ihn zu seiner Tat bewegt.
Vergleichbare Gewalttaten aus dem Umfeld der Studentenbewegung hat es bis April 1968 nicht gegeben, keine bewaffneten Überfälle, keine terroristischen Anschläge auf Personen. Und vielleicht hätte es sie auch in den siebziger Jahren nicht gegeben ohne die ohnmächtige Wut, die der alltägliche verbale und reale Terror von Staat und Politik, Presse und bürgerlichem Mob gegen die Studentenbewegung erzeugte.
Das allerdings steht nicht im Brockhaus.
(Gesendet am 31.7.2002)
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11.9.1973: Militärputsch in Chile
Verdrängte Geschichte am Beispiel des 11. September
Von Karl Rössel
Nach den Anschlägen auf das World Trade Center und das Pentagon vor einem Jahr erklärte Bundeskanzler Gerhard Schröder, der 11. September werde als »schwarzer Tag« in die internationale Geschichte eingehen. Mit dieser Feststellung offenbarte der sozialdemokratische Politiker, wie kurz und selektiv das historische Gedächtnis ist. Immerhin fand am 11. September 1973 ein politisches Ereignis statt, welches mehr Opfer forderte als die Flugzeug-Attacken in New York und Washington: der Militärputsch in Chile. Dabei wurde nicht nur der demokratisch gewählte Präsident des Landes, Salvador Allende, ermordet, sondern die Putschisten unter General Augusto Pinochet metzelten auch Tausende seiner Anhänger nieder.
In den Flussbiegungen des Rio Mapocho, der quer durch Santiago fließt, wurden nach diesem »schwarzen Tag« Hunderte von Toten angeschwemmt und die Leichenschauhäuser der chilenischen Hauptstadt waren überfüllt.
Wie die Washington Post enthüllte, waren der US-amerikanische Geheimdienst CIA und der US-Konzern ITT, eines der mächtigsten Industrie- und Technologieunternehmen der Welt, maßgeblich an dem blutigen Staatsstreich in Chile beteiligt. Der Grund: Die Regierung Salvador Allendes hatte das Wohl der eigenen Bevölkerung über die Profitinteressen US-amerikanischer Unternehmen gestellt. Unmittelbar nach seinem Amtsantritt hatte Allende mit einer ersten ungewöhnlichen Verfügung internationales Aufsehen erregt: Er ließ an alle chilenischen Kinder unter 15 Jahren täglich kostenlos einen halben Liter Milch verteilen. Millionen Schüler erhielten danach zudem Frühstück und Mittagessen, und die Regierung verteilte 500.000 Paar Schuhe an die Armen. Zum ersten Mal in der Geschichte Chiles wurden ein umfassendes Gesundheitssystem aufgebaut und staatliche Rentenzahlungen eingeführt. Die sozialistische Regierung enteignete den Großgrundbesitz und 50.000 Bauernfamilien erhielten ein Stück Boden, das sie bebauen konnten.
Um diese ambitionierten sozialen Reformen finanzieren zu können, nationalisierte Allendes Regierung die Kupferminen des Landes, die mehr als die Hälfte der chilenischen Deviseneinnahmen einbrachten, bis dahin aber von ausländischen, vor allem US-amerikanischen Konzernen kontrolliert worden waren. Die betroffenen Unternehmen wurden auch entschädigt, allerdings erlaubte sich die chilenische Regierung, von den Entschädigungssummen die Profite abzuziehen, die seit 1955 über zwölf Prozent im Jahr gelegen hatten. Das bedeutete, dass die meisten US-Konzerne leer ausgingen. Denn US-Rohstoffunternehmen wie Kennecott hatten in Chile, wie Salvador Allende in einer bewegenden Rede vor der Generalversammlung der Vereinten Nationen vorrechnete, »unglaubliche Gewinne« gemacht: zwischen 106 und 205 Prozent im Jahr! In vier Jahrzehnten hatten die ausländischen Kupferkonzerne insgesamt »vier Milliarden Dollar Profit« aus dem Land herausgepresst, obwohl sie anfangs nur 30 Millionen investiert hatten. Schon ein kleiner Teil dieser Summe hätte ausgereicht, so Allende vor der UNO, den 600.000 chilenischen Kindern genug zu essen zu geben, die aufgrund von Unterernährung nie »ein normales menschliches Leben« würden führen können.
Humanitäre Argumente wie diese hinderten die Regierung der USA nicht daran, den gewählten Präsidenten Chiles ermorden zu lassen und den brutalen Diktator Pinochet an die Macht zu hieven. Dessen Terrorregime fand auch hierzulande zahlreiche Sympathisanten. Nur zehn Tage nach dem Putsch erschien in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung eine Anzeige mit dem Titel »Chile: Jetzt investieren!«. Die chilenische Tochtergesellschaft der Farbwerke Hoechst bezeichnete in einem Brief an die Konzernzentrale in Frankfurt den »lang erwarteten Eingriff des Militärs« als eine Aktion, die »glänzend ausgeführt wurde«. Und Franz-Josef Strauß, der Ziehvater des CSU-Kanzlerkandidaten Edmund Stoiber, verteidigte Pinochets Folterregime mit dem zynischen Vergleich: »Wenn das Militär eingreift, geht es eben anders zu als beim Franziskanerorden, der Suppe verteilt.«
Andere nahmen danach den Jahrestag des Putsches, den 11. September, zum Anlass, um an die Verfolgten, Ermordeten und Verschwundenen in Chile zu erinnern. Dazu gehörte in den siebziger Jahren als Bundesvorsitzender der Jungsozialisten auch Gerhard Schröder. Inzwischen sorgt er als Regierungschef einer der mächtigsten Industrienationen der Welt längst mit dafür, »dass Ruhe und Ordnung«, wie es Heinrich Böll in einem Plädoyer für die Chilesolidarität formulierte, »eben doch nur Ruhe und Ordnung für einen bestimmten, den besitzenden Teil der Welt bedeuten«. Und deshalb wird Gerhard Schröder als Bundeskanzler heute der Opfer des 11. Septembers in New York gedenken und nicht auch der des 11. Septembers in Chile.
(Gesendet am 11.9.2002)
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15.10.1987: Thomas Sankara, der revolutionäre Präsident Burkina Fasos, wird ermordet
Von Karl Rössel
Das Sprichwort »Was nicht sein kann, das nicht sein darf« gilt auch und vor allem in der Politik. Wenn immer es seit Beginn des kapitalistischen Zeitalters eine Regierung auf der Welt wagte, sich den so genannten Marktgesetzen, sprich: den Interessen der kapitalistischen Industrienationen, zu widersetzen, wurde sie wirtschaftlich boykottiert, militärisch bekämpft oder gestürzt. So auch im westafrikanischen Burkina Faso, wo es am 15. Oktober 1987 zu einem Putsch kam, bei dem der Präsident des Landes, Thomas Sankara, ermordet wurde.
Nach der Unabhängigkeit des Landes im Jahre 1960 hatten die Kolonialherren aus Europa mit Hilfe einer korrupten einheimischen Oberschicht dort zunächst ihre Interessen wahren können. Sie bezogen billige Rohstoffe wie Baumwolle und verkauften im Gegenzug teure Kleider und Maschinen. So wuchs die Verschuldung und damit die wirtschaftliche Abhängigkeit des Landes, das Anfang der achtziger Jahre zu den zehn ärmsten der Welt gehörte.
Thomas Sankara wollte das ändern. Vom Kommandeur einer militärischen Eliteeinheit stieg er zunächst zum Staatssekretär und Anfang 1983 zum Premierminister auf. Aber nach politischen Differenzen über seine Reformvorschläge ließ ihn der konservative Staatspräsident des Landes, Jean Baptiste Ouedraogo, verhaften. Daraufhin kam es zu Großdemonstrationen von Studenten und Intellektuellen, Bauern und Arbeitslosen in der Hauptstadt Ouagadougou, und mit Sankara sympathisierende Militärs, darunter Blaise Compaoré, stürzten die Regierung. Sie befreiten Thomas Sankara aus dem Gefängnis und ernannten ihn zum Präsidenten des neu gegründeten »Nationalen Revolutionsrates«. Sankaras politisches Credo lautete: »Ein Volk, das Hunger und Durst leidet, ist ein abhängiges Volk.« Deshalb gab er die Parole aus »Zwei Mahlzeiten und zwei Liter Wasser täglich für jeden«, und er suchte die Abhängigkeit von ausländischen Geldern und Waren zu überwinden. Er schränkte die Importe teurer Nahrungsmittel und Konsumgüter aus Europa ein und wies seine Minister an, statt Nadelstreifenanzüge aus Paris afrikanische Gewänder zu tragen und von ihren Luxuslimousinen auf Kleinwagen umzusteigen.
Er kürzte die Gehälter von Regierungsangestellten und Lehrern, die zuvor mehr als ein Drittel des Staatsbudgets verschlungen hatten, und ließ mit dem eingesparten Geld in Hunderten Dörfern Gesundheitsstationen und Schulen bauen. Er dezentralisierte die Verwaltung und richtete Basiskomitees und Gerichtshöfe in den Dörfern ein. Er propagierte die Gleichberechtigung der Frauen und besetzte fünf Schlüsselpositionen in seiner Regierung mit Politikerinnen. Symbolischer Ausdruck seines politischen Aufbruchs war die Umbenennung des Landes, das die Kolonialherren Obervolta getauft hatten, in Burkina Faso, was soviel heißt wie: »Land der rechtschaffenen Menschen«.
Seine revolutionäre Politik brachte Sankara allerdings nicht nur Anerkennung, sondern auch Feinde ein. Dazu gehörten die kleine städtische Elite, deren Privilegien er beschnitten hatte, und die Dorfchefs auf dem Land, die ihre traditionelle Machtstellung bedroht sahen. Hinzu kam der politische Druck von außen. Die westlichen Industrienationen befürchteten, dass Sankara mit seiner Sympathie für die Blockfreien, die Sandinisten in Nicaragua und Fidel Castro in Kuba zum Vorbild für ganz Afrika avancieren könnte. Und so nutzte Frankreich seine engen Beziehungen zu Felix Houphouët-Boigny, dem reaktionären Präsidenten der benachbarten Elfenbeinküste, um in Burkina Faso einen Putsch anzuzetteln. Als Handlanger vor Ort diente Blaise Compaoré, Sankaras langjähriger Mitstreiter. Seine Soldaten legten einen Hinterhalt vor dem Sitz des Nationalen Revolutionsrates. Als Sankara vorfuhr, wurden er und zwölf seiner Begleiter von Maschinengewehrsalven niedergemetzelt und anschließend in einem Massengrab verscharrt. Noch heute erinnern dreizehn einfache weiße Grabsteine auf einem dürren Feld in einem Außenbezirk der Hauptstadt Ouagadougou an diese Bluttat. Auf einem steht: »Thomas Sankara – Präsident von Faso, 1983 bis 1987«. Damals, nach dem Putsch, defilierten Tausende Männer und Frauen, Bauern und Studenten mit tränenüberströmten Gesichtern an diesen Gräbern vorbei. Sie wussten, dass Afrika wieder um eine Hoffnung ärmer geworden war. Der Westen dagegen hatte seine Geschäfte nachhaltig gesichert: Sein Statthalter, Blaise Compaoré, regiert Burkina Faso noch heute in diktatorischer Selbstherrlichkeit. Seine Minister importieren wieder Luxuslimousinen aus Europa und auch in den Boutiquen der Reichen finden sich wieder westliche Konsumgüter aller Art. Die große Mehrheit der Menschen dagegen führt dort weiterhin ein elendes Leben – in einem der zehn ärmsten Länder der Welt.
(Gesendet am 15.10.2002)
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24.9.1992: Der deutsch-rumänische Abschiebedeal
Das erste Rückübernahmeabkommen tritt in Kraft
Von Albrecht Kieser
Selten agieren Menschen auf der Straße mit derselben Zielsetzung wie Regierungspolitiker. Einen solchen Gleichklang bekamen Roma vor zehn Jahren massiv und schmerzhaft zu spüren. Im August 1992 erlebten Dutzende von ihnen, die vor Pogromen in Rumänien geflohen waren, einen Angriff von hundert Rechtsradikalen. Rostock-Lichtenhagen heißt der Ort, an dem Skinheads sie mit Molotowcocktails, unter den Augen der Polizei, aus einer Flüchtlingsunterkunft vertrieben. Nur wenige Wochen später unterzeichneten der damalige Bundesinnenminister Rudolf Seiters und sein rumänischer Amtskollege Viktor Babiuc ein Abkommen, in dem sich Deutschland bescheinigen ließ, es dürfe Zehntausende Menschen, die aus Rumänien geflohen waren, ohne weitere Prüfung dorthin zurückschieben. Natürlich war das Abkommen nicht erst im August 1992 zustande gekommen, sondern von langer Hand vorbereitet worden. Doch argumentierten Politiker wie Helmut Kohl, Rudolf Seiters, aber auch Rita Süßmuth oder Björn Engholm, die Ereignisse in Rostock-Lichtenhagen hätten gezeigt, dass mit dem so genannten »Missbrauch des Asylrechts« endlich Schluss gemacht werden müsse. Ein Mittel, um Menschen, die einen Antrag auf Asyl stellten, jegliche Prüfung ihres Begehrens zu verweigern, war das Rückübernahmeabkommen mit Rumänien.
Das Abkommen vom 24. September 1992 war das erste einer ganzen Reihe ähnlicher Verträge mit ost- oder südosteuropäischen Staaten. Bereits 1993 und 94 folgten Abkommen mit Polen, Tschechien, Bulgarien und Kroatien. Inhalt und Ziel der Abkommen waren immer die gleichen: Die Vertragsstaaten erklärten sich gegenseitig zu so genannten Sicheren Drittstaaten, in denen niemand politisch verfolgt werde. Flüchtlinge aus den genannten Staaten wurden deshalb als nicht schutzwürdig im Sinne der Genfer Flüchtlingskonvention und des deutschen Asylrechts erklärt. Ihre Anträge blieben unbearbeitet. Die Vertragsstaaten verpflichteten sich, ihre geflohenen Staatsbürger umgehend zurückzunehmen. Bei all diesen Rückübernahmeabkommen floss viel Geld. Auch im Falle der deutsch-rumänischen Vereinbarung. Nicht für die betroffenen Flüchtlinge, sondern an die Regierung des Vertragspartners. Das Europäische Parlament vermutete seinerzeit in einer kritischen Resolution, eine Milliarde Mark werde an Rumänien gezahlt – vorwiegend für den Aufbau der Polizei und des Grenzschutzes. Tatsächlich beweisbar – und von deutscher Seite auch veröffentlicht – war nur die Zahlung von 30 Millionen Mark. Das Geld sollte, so Minister Rudolf Seiters, in den Aufbau von Integrationsprojekten fließen. Dort sollten Ausbildungslehrgänge für Abgeschobene stattfinden. Pferdefuß der »Integrationsprojekte«: Sie waren sämtlich im Westen Rumäniens angesiedelt, bei der deutschen Minderheit in Siebenbürgen. Die abgeschobenen Roma jedoch kamen aus allen Landesteilen. Von den insgesamt 1.700 Personen, die die Ausbildungsstätten zwischen Ende 1992 und 1995 durchliefen, waren denn auch nur zwanzig Roma. Das ganze Projekt diente offensichtlich weniger der Integration der Abgeschobenen als vielmehr der Förderung der deutschen Minderheit in Rumänien. Dass Rumänien die im Land diskriminierten Roma wieder aufzunehmen bereit war, hatte mit dem Bemühen der Regierung zu tun, sich der Europäischen Union anzunähern. Der Preis für den Kandidatenstatus, so sehen es die Aufnahmekriterien der EU vor, besteht unter anderem darin, deren Flüchtlingspolitik zu übernehmen. Das heißt: selber keine Flüchtlinge zu produzieren und zu verhindern, dass Flüchtlinge aus anderen Ländern auf ihrem Weg nach Westen Rumänien als Transitland nutzen. 170.000 Rumänen, unter ihnen etwa 40 Prozent Roma, flohen aus Rumänien nach Deutschland, als 1989/90 das Ceausescu-Regime zusammenbrach. Gleichzeitig wurde der rumänische Markt für westliche Waren geöffnet. In der Folge kam es zum Zusammenbruch weiter Bereiche des dortigen Kleingewerbes, Sektoren, in denen traditionell viele Roma tätig waren. Doch nicht nur aus ökonomischen Gründen verließen die Roma ihr Land: Sie flohen auch wegen der Verfolgungen, denen sie nach dem Ende der Ceausescu-Diktatur vermehrt ausgesetzt waren. Die Menschenrechtsorganisation Romani CRISS berichtete, dass allein von Ende 1989 bis 1992 mehrere Hundert Wohnhäuser von Roma niedergebrannt, Dutzende Roma angegriffen und vier ermordet wurden. Dennoch wurden in den ersten zwei Jahren nach dem Rückübernahmeabkommen über 60.000 Rumänen, unter ihnen die Mehrzahl Roma, abgeschoben. In Rumänien sahen sich die Abgeschobenen weiteren Pogromen ausgesetzt. Einer, bei dem vor den Augen der Polizei drei Roma gelyncht wurden, fand genau ein Jahr nach Unterzeichnung des Abkommens statt. Dieser Pogrom brachte die rumänische Regierung zum ersten Mal international, nämlich vor dem Europarat, in Erklärungsnot. Für eine Aussetzung der Abschiebungen aus Deutschland sorgte er allerdings nicht.
(Gesendet am 24.9.2002)
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19.7.1995: Wie viel Wahrheit verträgt das Land?
Gesetz über die Versöhnungskommission in Südafrika
Von Birgit Morgenrath
Die Südafrikanische Wahrheitskommission war eine Art reisendes Tribunal. Die 19 Kommissare und ihr Gefolge sind monatelang durch das ganze ehemalige Apartheid-Land gezogen. Rechtsanwälte, Geistliche, Männer und Frauen aller Hautfarben sind den dunklen Seiten der südafrikanischen Geschichte auf den Grund gegangen. Heute vor sieben Jahren war die Kommission per Gesetz eingesetzt worden, ein Jahr nach den ersten demokratischen Wahlen in Südafrika.
In verfallenen Dorfschulen, in schäbigen Hallen schwarzer Townships und in feinen Sitzungssälen der Großstädte haben die Wahrheitssucher unter dem Vorsitz von Erzbischof Desmond Tutu zunächst nur zugehört. Die Köpfe in die Hände gestützt haben sie den traumatischen Erlebnissen der Opfer und Angehörigen gelauscht; immer aufmerksam, manchmal zutiefst erschüttert. Rund 22.000 Menschen haben der Kommission ihre Qualen erzählt: von Mord und Folter durch die Apartheid-Schergen, von Haft und Verbannung, von Verfolgung und Erniedrigung. So konnte ein Teil der Wahrheit über die Verbrechen gegen die Menschheit durch das südafrikanische Apartheidregime aufgedeckt werden. Ganz im Sinne des Gesetzes. Gesellschaftliche Gewissenserforschung sollte eine gemeinsame Verständigung herstellen über das, was geschehen war. Denn die Kommissare und ihre Ermittler verhörten auch die Täter. Die stellten sich freiwillig, um einer Strafe zu entgehen. Diese Regelung war das Ergebnis eines politischen Kompromisses. Denn das weiße Apartheidregime hatte vor seinem Abtritt zunächst eine Generalamnestie für seine Handlanger gefordert und andernfalls mit Bürgerkrieg gedroht. Die schwarzen Verhandlungsführer setzten den Kompromiss durch, dass nur der, der ein vollständiges Geständnis über politisch motivierte und nicht bloß kriminelle Taten ablegte, straffrei ausgehen konnte. Das hieß: Die Wahrheit war ihnen wichtiger als die formelle Gerechtigkeit durch Strafe. Der Kompromiss wurde schließlich zum Konzept: Das erlittene und das begangene Unrecht sollte in den Seelen von Opfern und Tätern seine zerstörerische Kraft verlieren, indem es nicht länger verdrängt und geleugnet wurde. Im Ergebnis sollten rassistischer Hass und soziale Diskriminierung überwunden sowie Schwarze und Weiße miteinander versöhnt werden. Rund 9.000 Agenten der Geheimdienste, Polizisten, Folterknechte sowie Spezialisten der geheimen militärischen Sondereinheiten haben für sich die Chance gesehen, durch ein Geständnis aus dem Gefängnis freizukommen oder einer Strafverfolgung zu entgehen. Schuldbewusstsein und Reue waren nur in den seltensten Fällen die Motive. Positiv an der Amnestie ist, dass so die Wahrheit über Verbrechen ans Licht kam, die offiziell stets geleugnet worden waren. Die Verbrechen gegen die Menschheit, begangen durch den Staat, sind heute unwiderruflicher Bestandteil der südafrikanischen Geschichtsschreibung. Dieses Verdienst der Wahrheitskommission ist unumstritten.
Bezweifelt wird, ob das zweite Anliegen der Vergangenheitsbewältigung in Südafrika – die Versöhnung – gelungen ist. Denn viele politisch Verantwortliche sind bislang ungeschoren davongekommen. Kaum ein Vertreter des Apartheid-Establishments fand den Mut, zu seiner Verantwortung zu stehen. Auch in Südafrika ist die Unfähigkeit zu trauern bei Tätern und Mitläufern sehr viel weiter verbreitet als Reflexion und Verantwortungsbewusstsein. Kritiker der Kommission meinen heute, wenn es schon keine Gerechtigkeit durch moralische Sühne oder juristische Strafe gebe, so müsse sie durch eine wirkungsvolle Wiedergutmachung hergestellt werden. Das verlangt auch die Wahrheitskommission. Die Mehrheit der Weißen in Südafrika allerdings lehnt Wiedergutmachung ab. Ebenso wie die Nutznießer der Apartheid im Ausland, darunter über 300 deutsche Banken und Unternehmen, die in den achtziger Jahren von billigen und rechtlosen Arbeitskräften profitiert haben. Trotz dieser Einschränkungen ist das historische Experiment der südafrikanischen Wahrheitskommission einzigartig. Kein anderer Staat der Welt hat es auch nur annähernd gewagt, sich seiner politischen Vergangenheit in dieser Radikalität zu stellen. Anders als in Lateinamerika oder in Deutschland hat die Wahrheitskommission eine breite gesellschaftliche Debatte ausgelöst, die noch lange nicht beendet ist. Dennoch ist das südafrikanische Modell nicht einfach auf andere Länder übertragbar. Nur in einem bereits befriedeten und demokratischen Staat wird der schwierige Prozess einer gemeinsamen Wahrheitssuche und die Formulierung einer »Moral von der Geschichte« möglich sein.
(Gesendet am 19.7.2002)
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