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politische kommentare

 

 

Propaganda für die Bundeswehr
Die Post ist gelb und gut – gewesen.
Von Albrecht Kieser

Unter tätiger deutscher Mithilfe
Das Mittelmeer als Massengrab
Von Albrecht Kieser

Ausländer und Kinderrechte
Familienzusammenführung? DNA-Tests!
Von Albrecht Kieser

Ungeliebt in Wuppertal
Vom Polizeigriff zum Übergriff
Von Albrecht Kieser

Beihilfe zum Mord?
Verfolgung wegen Homosexualität nicht „asylrelevant“
Von Albrecht Kieser

Tote Kosten
Wenn Flüchtlinge in Deutschland sterben...
Von Albrecht Kieser

Bürener Hetztirade
Zum Aachener Friedenspreis
Von Albrecht Kieser

Kurden auf der Abschussliste
Europas Anti-Terror-Hysterie
Von Albrecht Kieser

Händewaschen!
Das neue Rezept der Weltbank gegen das Sterben in der Welt
Von Gerhard Klas

Nicht im Interesse der Lohnabhängigen
Die Beschäftigungspolitik der EU
Von Gerhard Klas

 

Propaganda für die Bundeswehr
Die Post ist gelb und gut – gewesen.
Von Albrecht Kieser

Die Post ist gelb. Die Post ist gut. Denn sie liefert der Oma ihr Päckchen auf die Alm und dem Fischer auf der Hallig einen Brief von seinem fernen Sohn. Das hat uns vor kurzem noch der Talker der Nation, Thomas Gottschalk, in einer Postplakatserie nahe gebracht. Nun gut, Zumwinkel, das war schon etwas rufschädigend, als dienstältester Konzernherr Deutschlands so nachhaltig die Steuer zu betrügen. Oder die vielen geschlossenen Post-Filialen, die Tausende entlassener Postboten und die armen Postkulis, die zwar noch in Lohn und Brot gehalten aber immer voller bepackt durch die Straßen gehetzt werden. Andererseits hat die gute gelbe Post im Schulterschluss mit der Gewerkschaft die Heuschrecken im Postverteilerdienst abgewehrt. Nicht ganz uneigennützig zum Wohle ihres Profits, der im vergangenen Jahr bei 3,2 Milliarden Euro lag.
Warum also macht die Post jetzt so was? Was nicht gelb ist sondern blutig. Warum setzt die Post ihren guten Restruf aufs Spiel und klebt Plakate für die Bundeswehr?
Durch die leicht abstehenden Ohren des in seinem Tarnanzug steckenden Offiziers Kowalke scheint die afghanische Sonne. Der ziemlich kahl rasierte Mensch lächelt milde in die Kamera und lässt uns in einem Satz oberhalb seines freundlichen Kopfes wissen, was er so denkt in Afghanistan: „Wenn mir meine Frau schreibt, dann ist die Heimat ganz nah. Selbst, wenn ich 5.000 Kilometer weg von Deutschland bin.“ Zitat Ende. Unterschrift des Plakats: „Deutsche Post. Die Post für Deutschland.“
Udo Eschenbach, bei der Post als Konzernrepräsentant „Military Affairs Bundeswehr/NATO“, und der höchste General der Bundeswehr, Generalinspekteur Schneiderhan, halten beide mit Stolz das erste von 8.000 Plakaten auf der Website der Bundeswehr hoch. Mit ihnen macht die Post seit dieser Woche für die Bundeswehr Werbung. Der Postmensch sagt dazu, die Plakatkampagne solle „den Soldatenberuf in der Gesellschaft präsent“ machen. Wie kommt Udo Eschenbach auf diese Idee? Nun gut, der Mann ist Oberst der Reserve und nebenbei auch bei der Deutschen Gesellschaft für Wehrtechnik am Start.
Aber an Eschenbachs Faible fürs Militärische wird es nicht liegen, dass sein Arbeitgeber, der größte Logistikkonzern Europas mit weltweit 500.000 Beschäftigten und Aktivitäten in 220 Ländern, die Bundeswehr so freundlich ins Sonnenlicht stellt. Es wird auch nicht daran liegen, dass die Bundeswehr dringend Hilfe von gut beleumundeten Institutionen braucht, weil die Wählerschaft ihrem Afghanistan-Abenteuer den Rücken kehrt und die Zahl der Freiwilligen ins Bodenlose fällt. Sicherlich, da kommt die Plakatserie gerade recht, aber sie ist schon länger in Vorbereitung, die Post rechnet nicht in Wählerstimmungskonjunkturen.
Auf der Suche nach den Gründen für die Post-Beihilfe zum Töten fällt ein anderer Termin ins Auge: Zeitgleich mit dem Beginn der Plakatkleberei endet die Bewerbungsfrist eines Teilnahmewettbewerbs der Bundeswehr. Nicht für die Behindertenolympiade oder ein internationales Schießsportfest. Es geht um – Zitat – „eine Kooperation im Bereich Lagerhaltung & Distribution“, zu deutsch: Verteilung. Zur Erläuterung ein weiteres Zitat aus den Ausschreibungsunterlagen der Bundeswehr für den Wettbewerb: Gefordert sind Angebote zur „Lagerung und Bewirtschaftung von Material der Bundeswehr in der BRD und Transportleistungen für Material in der BRD sowie zwischen BRD und Dienststellen der Bundeswehr oder übender Truppe im Ausland.“
In den kommenden Wochen prüft die Bundeswehr also, welcher der Bewerber für diesen Milliardenauftrag den Zuschlag bekommen soll. Da erleichtert es die Entscheidungsfindung, wenn die Post, so gelb und gut, der kämpfenden Truppe kameradschaftlich um den Bart streicht. Kundenpflege nennt man das. Wobei die Post als Bewerber für die Kriegstransporte natürlich mehr in die Waagschale werfen kann als ihre aktuelle Plakatkampagne. Die Post ist längst fester Teil der Truppe und versorgt, seitdem Deutschland mit seinen Stahlhelmen wieder in aller Welt antritt, jeden Monat mit 130.000 Briefen und 70.000 Päckchen die helfend um sich schießenden Einheiten im Ausland.
Außerdem ist die Post schon seit 2002 im Zuge der Privatisierung militärischer Dienstleistungen Kooperationspartner der Bundeswehr und transportiert in ihrem Auftrag leichtes Kriegsmaterial bis 50 kg in alle Welt. Und für die US-Amerikaner wickelt die Post seit 2003 den Feldpostdienst in den Irak ab.
Kampferprobt ist sie also, die Deutsche Post. Und so macht auch die gewagte Behauptung des vormaligen sozialdemokratischen Bundesverteidigungsministers Peter Struck Sinn, am Hindukusch würden deutsche Interessen verteidigt. Wenn es schon nicht die Interessen der deutschen Bevölkerung sind, die Interessen eines Global Player in Sachen Logistik, der auf den Namen Post hört, sind es auf alle Fälle.
(Gesendet in: Politikum, WDR 5, 8.9.2008)

 

Unter tätiger deutscher Mithilfe
Das Mittelmeer als Massengrab
Von Albrecht Kieser

(Vorschlag für die Anmoderation:)
In der letzten Woche sind erneut 70 Afrikaner bei dem Versuch ertrunken, das europäische Festland in einem Flüchtlingsboot zu erreichen. Die Überlebenden, die vor der Insel Malta aufgegriffen wurden, berichteten, dass ihnen während der einwöchigen Überfahrt die Lebensmittel ausgegangen seien, das Schlauchboot habe irgendwann seinen Außenbordmotor verloren, sei schließlich halb voll Wasser gelaufen und dann gesunken. Von 79 in Libyen aufgebrochenen Menschen, unter ihnen vier schwangere Frauen, konnten nur acht geborgen werden.
(Beitrag:)
Die Sommerzeit ist in unseren Breiten die beliebteste Reisezeit, die Küsten und Inseln des Mittelmeers gehören zu den bevorzugten Urlaubszielen, die Fähren dort haben Hochbetrieb. Selbst vom libyschen Tripolis nach La Valletta auf Malta fährt eine, Montags und Freitags. Und braucht gerade mal 12 Stunden von Afrika bis Europa.
Ein Schlauchboot braucht natürlich länger.
In der Sommerzeit ist Hochsaison. Da arbeiten die Reiseveranstalter auf vollen Touren. Frontex auch. Frontex setzt allerdings Schiffe und Hubschrauber im Mittelmeer ein, um Reisewillige am Reisen zu hindern: unwillkommene Flüchtlinge, irreguläre Migranten, unangemeldete Glückssucher, die nach Europa wollen. Frontex, die Europäische Grenzschutzagentur.
Von Frontex weiß man nicht viel. Die Agentur sitzt in Warschau, als Behörde, die vermittelt, organisiert, schult, forscht und anleitet, um den europäischen Grenzschutz zu koordinieren und zu effektiveren, d.h. unerwünschte Besucher fernzuhalten. Frontex hat 200 Leute angestellt, 70 Millionen Euro können sie in diesem Jahr ausgeben.
Zum Beispiel für die beiden wichtigsten Operationen vor der afrikanischen Küste, mit denen, wörtlich, „illegale Migranten aufgegriffen werden sollen“. Für diese Operationen organisiert Frontex Schiffe, Hubschrauber und Grenzschützer nationaler europäischer Polizeien und koordiniert ihren Einsatz. Die operative Leitung liegt bei den Grenzschutzministerien, auf deren Staatsgebiet die Einheiten agieren.
Weil es sich dabei um alte europäische Kulturnationen handelt, tragen die Operationen auch entsprechende Namen. Hera heißt die eine, die den Seeweg von Westafrika zu den Kanaren kontrolliert, Nautilus heißt die andere, die Malta und Italien gegen Nordafrika abschirmen soll. Hermes, Minerva und Poseidon gibt es auch. Auskunft darüber, wie das mit dem Abschirmen genau vor sich geht, erteilt Frontex ausschließlich der Europäischen Kommission, also der nicht gewählten, sondern von den Mitgliedsstaaten benannten Führungscrew der Europäischen Union. Dem Europäischen Parlament ist Frontex keine Rechenschaft schuldig, nationalen Parlamenten auch nicht und der Öffentlichkeit schon gar nicht.
Frontex ist nämlich eine sogenannte „EU-Gemeinschaftsagentur mit eigener Rechtspersönlichkeit“, eine interne Ausgründung der kommissionsgeführten EU-Verwaltung.
So kommt es, dass viele Fragen zur Arbeit dieser Agentur ungeklärt bleiben, die in ihrem Einsatzgebiet mittlerweile über 10.000 Tote zu vermelden hat. Trotz ihrer Aktivitäten? Wegen ihrer Aktivitäten?
Ein wichtiges Operationsfeld von Nautilus liegt vor der Libyschen Küste. Dort sind auch deutsche Helikopter eingesetzt, mit Bundespolizisten an Bord. Ihre Aufgabe: Flüchtlingsschiffe aufzuspüren und ihre Koordinaten an die Marineeinheiten von Nautilus weiterzugeben. Die dann ihres Amtes walten.
Menschen, die z.B. aus Libyen nach Europa fliehen wollen, wissen das. Deshalb wählen sie möglichst kleine, kaum seetaugliche Boote, die auch von einem Hubschrauber nur schwer entdeckt werden. Sie nehmen außerdem nicht den geraden Weg nach Norden, sondern kreuzen, schlagen Haken, wählen lebensbedrohliche Umwege, um große Schiffsrouten zu vermeiden und der Entdeckung zu entgehen. Das berichten Flüchtlinge, die ankommen, und Journalisten, die Flüchtlinge begleitet haben.
Sie berichten auch, was die Frontex-Grenzschützer mit den Booten machen, die sie dank deutscher Luftaufklärung aufbringen. Sie drängen diese Boote ab und zwingen sie zur Umkehr. Frontex meldet das als Erfolg. Die Zahlen von Nautilus 2008 lägen noch nicht vor, aber allein während der Operation Hera habe man 3.651 Menschen – wie es im Frontex-Englisch heißt – „diverted back and deterred“, also aufgebracht und abgedrängt. Darunter schwangere Frauen, politische Flüchtlinge, Kinder.
Das Abdrängen auf hoher See verläuft wenig freundlich, was leicht vorzustellen ist, wenn ein Marineboot mit hoher Bugwelle auf ein Schlauchboot zufährt und die Anweisung erteilt umzukehren. Flüchtlinge berichten sogar, dass europäische Grenzschützer Lebensmittel und Treibstoff der Bootsinsassen konfiszieren, damit sie zur näher liegenden afrikanischen Küste abdrehen. Das hat vor kurzem der Leiter der Einsatzzentrale der italienischen Militärpolizei in Rom, Francesco Saverio Manozzi, in einem Interview mit dem Südwestrundfunk bestätigt.
Nähere Auskünfte dazu erteilt das deutsche Bundesinnenministerium nicht. Frontex sei zuständig. Frontex aber antwortet nicht.
Das Mittelmeer ist zu einem Massengrab geworden, das mittlerweile mehr als 10.000 Menschen bei ihrer Flucht nach Europa verschlungen hat. Viele gibt es wieder her. Als Wasserleichen an Europas oder Afrikas Stränden. Besonders in der Sommerzeit, der beliebtesten Reisezeit in unseren Breiten.
(Gesendet in: Politikum, WDR 5, 2.9.2008)

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Ausländer und Kinderrechte
Familienzusammenführung? DNA-Tests!
Von Albrecht Kieser

(Vorschlag für die Anmorderation):
Eine Familie ist eine Familie. Könnte man denken. Bloß: so einfach ist das in den Zeiten der Patchwork-Familie nicht mehr. Da sind die Väter nicht die Väter, die Mütter nur zum Teil und wieder andere Kinder sind dann doch gemeinsame. Wer soll da schon durchblicken?
Und wie sollen Behörden da durchblicken? Nun, das kommt offensichtlich darauf an, um welche Behörde es sich handelt. Und um was für Familien. Wenn zum Beispiel Erwachsene und Kinder in einer Wohnung leben und Hartz IV erhalten könnten, dann ist die Sache ganz klar: dies Gefüge gilt als Bedarfsgemeinschaft, hier: als Patchwork-Familie, egal von wem welche Kinder sind und ob die Erwachsenen überhaupt eine Familie bilden wollen. Fest steht für die entscheidende Behörde: die Erwachsenen und Kinder haben füreinander aufzukommen und wenn einer genug für alle verdient, bekommen die anderen keine staatliche Unterstützung. Ausländerbehörden denken da ganz anders…
(Beitrag:)
Wenn z.B. ein Migrant aus Nigeria seine Frau und seine Kinder oder eine Deutsche ihren türkischen Ehepartner und Vater des gemeinsamen Kindes nach Deutschland holen möchte – Familiennachzug nennt sich das – dann ist diese Absicht erst einmal gar nichts wert. Ein Visum bekommen die Angehörigen des Migranten oder des bionationalen Familienverbundes jedenfalls deshalb noch lange nicht. Es könnte ja sein, dass die Angehörigen von sonst woher stammen und gar keine echte, blutsverwandte Familie mit dem Antragsteller bilden. Nur die müssen die Ausländerbehörden einreisen lassen, denn den Schutz von Ehe und Familie erzwingt definiertes internationales Recht. Alle anderen, die Patchwork- oder Großfamilien, sollen draußen bleiben; denn im deutschen Ausländerrecht geht es bekanntlich um die Begrenzung, nicht um die Ausweitung der Zuwanderung.
Um nun die nicht geschützte Patchwork-Familie fein säuberlich von einer echten zu unterscheiden, hat die medizinische Wissenschaft ein klärendes Hilfsmittel parat. Den DNA-Test. Da brauchen angeblicher Papa, die Mama und die Kinder zur Untersuchung nur ein wenig Spucke oder Blut zu lassen - und schon ist klar: da gehört wirklich zusammen, was die Desoxyribonukleinsäure offenbart hat. Oder eben nicht. Das kostet zwar ein wenig, aber weil Deutschland nicht Finnland ist, werden anders als dort die DNA-Tests auch nicht von der Staatskasse bezahlt, sondern vom Antragsteller. Schließlich will er etwas vom deutschen Staat und nicht umgekehrt. Wer also seine Familie nach Deutschland holen will, sollte schon über genügend Bargeld verfügen. Jedenfalls liegen die reinen Analysekosten für einen Vater-Mutter-Kind-Test nicht unter 800 Euro. Wenn er denn überhaupt zu haben ist – in Nigeria, Anatolien oder Birma sind derartige Labore eher selten und auch der Transport von Blut oder Speichel nach Deutschland stößt auf Probleme. Aber selbst wenn alle diese Hürden überwunden werden sollten, stimmt bei dieser Sorte Familien-Nicht-Zusammenführung etwas von Anfang an nicht:
Die deutschen Ausländerbehörden dürfen niemandem vorschreiben, einen solchen Test zu machen. DNA- oder Gentests sind eine freiwillige Veranstaltung, nicht nur bei Deutschen, sondern auch bei Migranten. Trotzdem weitet sich der Gentest als Regeltest für hier lebende Menschen aus, die ihre Familien aus dem Ausland nach Deutschland holen wollen. Ausländische Abstammungsurkunden, Heiratsurkunden und ähnliche Dokumente gelten den deutschen Behörden nämlich wenig; und rein überhaupt nichts, wenn die Antragsteller aus so genannten Problemstaaten stammen. Das sind Staaten, in denen nach Ansicht der deutschen Auslandsvertretungen amtliche Dokumente sowieso gefälscht sind. Die zuständigen Bundesländer führen entsprechende Listen (z.B.: http://www.inneres.sachsen-anhalt.de/min/r42/download/persstandsrecht/erlass_231002.pdf) - wer von dort kommt, der hat Pech gehabt - oder eben den „freiwilligen“ Gentest als letzten Ausweg am Hals.
Die Gentests beschäftigen seit dem Herbst 2007 auch den Deutschen Bundestag. Die FDP und die „Linke“ monierten den faktischen Zwang, dem die Antragsteller auf Familienzusammenführung unterworfen werden. Die Bundesregierung weich aus und beteuert die „Freiwilligkeit“ der Tests. Was wenig glaubhaft ist, weil zahlreiche Dokumente vorliegen, in denen Ausländerbehörden und Rechtsanwälte klarstellen, dass ohne Gentests kaum noch Familienzusammenführungen zugelassen werden.
Doch bevor die Angelegenheit womöglich beim Europäischen Gerichtshof landet, hat jetzt das Ausländeramt Viersen einen Ausweg aus dem Dilemma gewiesen und gezeigt, wie man aus dem unechten freiwilligen Gentest einen echten erzwungenen machen kann. Die Ausländerbehörde will nämlich dem gemeinsamen Kind eines seit dem Jahre 2005 ordentlich verheirateten deutsch-türkischen Paares Blut abzapfen lassen. Der Vater ist Türke und durfte 2007, als sein Sohn in Deutschland geboren wurde, im Wege der Familienzusammenführung einreisen. Weil er sich aber nicht freiwillig einem Gentest unterziehen wollte – warum auch, er war ja als verheirateter Ehemann schon per Gesetz der Vater des Kindes – griff die Ausländerbehörde zum Strafrecht. Die Weigerung, sich gentesten zu lassen und damit die Aufklärung der Frage zu hintertreiben, ob hier eine Blut- oder nur eine Patchwork-Familie vorläge, lasse auf eine strafbare Scheinehe schließen. Dem Kind jedenfalls sei zu diesem Zweck Blut zu entnehmen; der Vater sei in die Türkei auszuweisen, wenn er sich weiterhin weigere.
Das ist so einfallsreich wie es den Kern der ausländeramtlichen Familienpolitik offen legt: Ausländer lügen, um nach Deutschland zu gelangen und das ist bis zum Beweis des Gegenteils Amtsmeinung. Ob das Viersener Verfahren allerdings Schule machen kann, ist rechtsgültig noch nicht abschließend geklärt (http://www.vdj.de/index.php?id=45,275,0,0,1,0&hashID=24133a6e34d03fdc2fe99ce1ef701a5f).
(Gesendet in: Tageszeichen, WDR 3, 6.2.2008)

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Ungeliebt in Wuppertal
Vom Polizeigriff zum Übergriff
Von Albrecht Kieser

Die Schwebebahnmetropole Wuppertal zeigt sich dieser Tage an höchster Stelle kampfesmutig. Jedenfalls wenn es um die Verteidigung der Staatsgewalt im Allgemeinen und der Polizei im Besonderen geht. Peter Jung, CDU, das achte Jahr im Amt des Oberbürgermeisters, stellte sich gleich mehrere Mal kurz hintereinander schützend vor seine uniformierte Ordnungsmacht. Am 9. Januar ließ er eine polizeikritische Ausstellung im städtischen Jugendzentrum Barmen abhängen, am 10. Januar beendeten die Mitarbeiter seines Ordnungsamtes und der Polizei eine unangemeldete Filmvorführung auf dem stadtzentralen Willy-Brandt-Platz. Und am 15. Januar kündigte er einer ebenfalls polizeikritischen Veranstaltung den lange zugesagten Versammlungsraum im Rathaus.
Die gekündigte Ausstellung trägt den Titel: „Vom Polizeigriff zum Übergriff“ und stammt aus Berlin; auf der ebenfalls gekündigten Veranstaltung sollten hochkarätige Referenten Antworten auf die Frage finden: „Polizeigewalt gegen Flüchtlinge und Migranten – Struktur oder Einzelfall?“ Und der von der Straße vertriebene Film wollte unter dem Titel "Sie tun mir weh, Herr Wachtmeister!" über die jährlichen Punkertreffen in Wuppertal berichten, die sich immer wieder mit heftigen Stockschlägen der Ordnungskräfte konfrontiert sehen.
Peter Jung hat seine Verbote im Einvernehmen mit dem sozialdemokratischen Jugend-, Sozial- und Integrationsdezernenten Stefan Kühn verfügt. Man lasse nicht zu, so das Wuppertaler Oberhaupt, dass in städtischen Gebäuden die Polizei verunglimpft werde.
Mit ihrem wacker geschwungenen Zensurknüppel haben die Stadtoberen einen Volltreffer gelandet. Nicht, weil Ausstellung und Begleitprogramm etwa unhaltbare Vorwürfe unverbesserlicher Polizeikritiker ausbreiten würden. Nein, die Ausstellungsmacher tragen ein echtes Problem vor. Auf Tafeln und im Begleitprogramm berichten zahlreiche Augenzeugen von unangemessenen polizeilichen Übergriffe vornehmlich gegen Jugendliche, gegen Migranten und gegen unangepasste Demonstranten und konkretisieren auf diese Weise, was in wissenschaftlichen Untersuchungen und Expertisen von Menschenrechtsorganisationen thematisiert wird: das Problem struktureller polizeilicher Gewalt.
Vor vier Jahren veröffentlichte Amnesty International den Bericht  "Erneut im Fokus – Vorwürfe über polizeiliche Misshandlungen und den Einsatz unverhältnismäßiger Gewalt in Deutschland". In diesem Bericht dokumentiert die Organisation zwanzig Fälle, die in ihren Augen exemplarisch für übermäßige Polizeigewalt in Deutschland stehen. Bereits 1995 und 1997 hatte Amnesty ähnliche Berichte veröffentlicht. Der Bericht 2004 kommt zu dem Schluss: Exzessive Polizeigewalt und deren unzulängliche Ahndung sind immer noch ein Thema in Deutschland.
Die meisten Misshandlungen durch Polizeibeamte ereignen sich danach bei Festnahmen oder in Polizeihaft. Sehr häufig seien davon Ausländer oder deutsche Staatsbürger ausländischer Herkunft betroffen (http://www.amnesty-polizei.de/pages/deutschlandbericht.php).
Ende 2007 haben der Republikanische Anwaltsverein und das Grundrechtekomitee ihre Untersuchungen über die globalisierungskritischen Demonstrationen in Rostock und Heiligendamm veröffentlicht. Zahlreiche Übergriffe der Polizei sind darin belegt.
Auch internationale Organisationen üben immer wieder Kritik; so hat das Antifolterkomitee des Europarates in seinem letzten Bericht festgestellt, Zitat:„Wie bereits im Jahr 2000 (...) wurde eine Reihe von Vorwürfen über eine übermäßige Gewaltanwendung durch Polizeibeamte zum Zeitpunkt der Festnahme erhoben. Diese Vorwürfe betrafen insbesondere Schläge und Tritte, nachdem die betroffene Person unter Kontrolle gebracht war, sowie eine länger andauernde und feste Fesselung mit Handschellen. Ferner wurden Vorwürfe über verbale Beschimpfungen festgehaltener Personen durch Polizeibeamte erhoben.“
(http://www.cpt.coe.int/documents/deu/2007-18-inf-deu.pdf)
Deutsche Menschenrechtsorganisationen fordern schon seit vielen Jahren eine unabhängige Kontrolle der Polizei. Bislang nämlich wir sie von der Staatsanwaltschaft kontrolliert. Die muss tätig werden, wenn Polizeibeamten strafrechtlich relevantes Fehlverhalten vorgeworfen wird. Doch Staatsanwaltschaft und Polizei arbeiten in allen anderen strafrechtlichen Bereichen eng und vertrauensvoll zusammen. Sie sind im Alltag aufeinander angewiesen. Dieses Arbeitsbündnis verhindert, so die Kritiker, dass Staatsanwälte konsequent gegen Polizisten ermitteln.
Eine unabhängige Kontrollkommission der Polizei wurde bisher nur einmal, Mitte der 90er Jahre im Stadtstaat Hamburg etabliert. Zuvor waren systematische Misshandlungen von Migranten auf Hamburger Polizeiwachen bekannt geworden. Ein parlamentarischer Untersuchungsausschuss wurde eingesetzt, der damalige SPD-Innensenator musste zurücktreten. 1998 wurde dann ein ständiger Untersuchungsausschuss der Bürgerschaft eingerichtet. Er arbeitete allerdings nur kurz: der nächste Innensenator, wieder von der SPD, schränkte die Aussagebefugnisse der Polizeibeamten vor dem Kontrollgremium ein; nach dem Wahlsieg der CDU schaffte Innensenator Roland Schill, bekannt geworden als „Richter Gnadenlos“, die Kommission wieder ab.
Die unabhängige Polizeikontrolle, die längst auch der UN-Menschenrechtsausschuss von den deutschen Regierungsstellen fordert (Punkt 11 des UN-Berichts: http://www.uni-potsdam.de/u/mrz/mrm/mrm3-4.htm), bleibt auf der Tagesordnung. Aber von all dem hat der Wuppertaler Oberbürgermeister mit seinen Mannen offensichtlich noch nie etwas vernommen.
(Gesendet in: Tageszeichen, WDR 3, 21.1.2008)

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Beihilfe zum Mord?
Verfolgung wegen Homosexualität nicht „asylrelevant“
Von Albrecht Kieser

Jasmin K. ist 31 Jahre alt und lesbisch. Im Iran ist sie deshalb in Abwesenheit zum Tode verurteilt worden. Abwesend war sie, weil sie vor ihren Verfolgern nach Deutschland geflohen war. Doch der Asylantrag der jungen Frau ist abgelehnt worden, sie soll abgeschoben werden. Begründung des zuständigen Verwaltungsgerichts Berlin: Jasmin K. sei gar nicht lesbisch. Das habe ihre Mutter in Teheran einem Mitarbeiter der deutschen Botschaft auf dessen Nachfrage mitgeteilt.
Ist das nur weltfremd? Die Aussage einer angsterfüllten Mutter für bare Münze zu nehmen, die niemals bestätigen würde, ihre Tochter sei das, was der iranischen Justiz die Rechtfertigung für einen staatlichen Mord liefert?
In Berlin protestieren seit Wochen Schwulen- und Lesbengruppen gegen die – wie sie sagen – Beihilfe zum Mord durch die deutschen Asylbehörden und -gerichte. Der Fall scheint ungeheuerlich und ist es auch. Und trotzdem ist er nicht einmalig. Der Wahnsinn, mit dem deutsches Asylrecht Schwulen und Lesben den Schutz verweigert, hat Methode.
Eine Expertise von Amnesty International vom Juli 2007 gibt einen Überblick über die Entscheidungen in Sachen homosexuelle Flüchtlinge in Deutschland. Danach setzen das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge und zahlreiche Gerichte – nicht alle! – im wesentlichen zwei standardisierte Ablehnungsbegründungen ein:
Erstens: Würden sich die homosexuellen Antragsteller in ihren Heimatländern, Zitat, „äußerst bedeckt halten“ bzw. „Diskretion walten lassen“, könnten sie erfolgreich eine Verfolgung vermeiden.
Wie das zu funktionieren hat, belehrt uns bzw. die homosexuellen Flüchtlinge z.B. das Verwaltungsgericht Düsseldorf. Zitat: „Eine weitgehende Beschränkung homosexueller Betätigung zum Schutz der in Ägypten herrschenden Moral stellt keine politische Verfolgung dar. Mit der Folge, dass es dem betreffenden Ausländer asylrechtlich zumindest zuzumuten ist, seine homosexuelle Veranlagung ausschließlich im engsten privaten Umfeld auszuleben und nach außen hin nicht bekannt werden zu lassen.“
Als würden die Richter diesem offensichtlich weltfremden Gerede selber nicht so ganz glauben, verwenden sie häufig noch eine zweite Standardbegründung: Wenn das Verbot der Homosexualität im Herkunftsland des Flüchtlings der öffentlichen Moral diene, könne von asylrelevanter Verfolgung nicht die Rede sein. Das hätten bereits höchstrichterliche Urteile von 1988 und 1957 herausgearbeitet.
Ein Beispiel, mit welch kontinuierlicher Besessenheit die Schwulenfeindlichkeit der Nachkriegszeit ins neue Jahrtausend gerettet und sogar internationalisiert wird, liefert das Verwaltungsgericht Oldenburg. Zitat: „Ghana sieht ein berechtigtes Interesse darin, homosexuelle Handlungen zu reglementieren. Das Gericht geht davon aus, dass die angeführte Strafnorm in Ghana allein die Aufrechterhaltung der öffentlichen Moral bezweckt.“ Dem Antragsteller, so das Gericht weiter, drohten zuhause nur höchstens 3 Jahre Haft für seine Homosexualität. Das sei, Zitat, „keine offensichtlich unerträglich harte Strafe“. Das Gericht lehnte den Asylantrag ab.
Ähnlich das Verwaltungsgericht Frankfurt an der Oder. Es verweigerte einem libanesischen Flüchtling den Asylschutz und argumentierte, Zitat: „Es spricht einiges dafür, dass die im libanesischen Strafrecht für die homosexuelle Betätigung angedrohte Freiheitsstrafe nur bestimmt ist, die dort geltende Vorstellung von einer unbeeinträchtigten öffentlichen Ordnung aufrecht zu erhalten.“
Vom internationalen Asylrecht wird diese Spruchpraxis nicht gestützt. Bereits die Genfer Flüchtlingskonvention von 1951 verpflichtet die Unterzeichnerstaaten, Flüchtlinge zu schützen, die wegen ihrer sexuellen Orientierung verfolgt werden. Die Flüchtlingsorganisation der UNO, der UNHCR, hat im Jahre 2002 noch einmal dringend gebeten, in diesem Sinne zu entscheiden. Daraufhin hat auch die Europäische Union ihre Mitgliedsstaaten an die Einhaltung dieses Standards erinnert. Nicht zuletzt wurde in das deutsche Zuwanderungsgesetz vom 1. Januar 2005 eine entsprechende Selbstverpflichtung geschrieben.
Papier. Denn das alles wohl wissend und auch darüber informiert, dass in 80 Staaten der Erde Homosexualität gerichtlich verfolgt wird, äußerte sich die Bundesregierung zu den beiden Standardablehnungen, genervt von einer kleinen Anfrage der Linkspartei, folgendermaßen, Zitat: „Zur Vermeidung politischer Verfolgung ist eine in die Privatsphäre zurückgezogene Ausübung der Sexualität grundsätzlich zumutbar.“ Und um sich weitere kritische Debatten über die politische Verantwortung für die Fehlurteile ihrer untergebenen Behörden und der Justiz vom Leibe zu halten, fügte sie hinzu: „Dazu merkt die Bundesregierung an, dass sie grundsätzlich Entscheidungen der unabhängigen Justiz nicht bewertet.“
Wozu sie allerdings verpflichtet ist. Sie muss nämlich EU-Vorgaben in nationales Recht umsetzen. Zum Beispiel die sogenannte EU-Qualifikationsrichtlinie 2004/83. Die billigt auch Homosexuellen eine bekennende Lebensweise zu. Vor einem Jahr hätte die Bundesregierung den Asylbehörden und Gerichten verbindlich die Anerkennung dieser Richtlinie durch Gesetz oder Verordnung vorschreiben müssen. Dass sie das bis heute unterlassen hat, macht die juristische Skandalentscheidung gegen das Asylbegehren der lesbischen Iranerin Jasmin K. zu einem politischen Verbrechen.
(Gesendet in Tageszeichen auf WDR 3, 24.9.2007)

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Tote Kosten
Wenn Flüchtlinge in Deutschland sterben...
Von Albrecht Kieser

Der Asylbewerber Rachid Sbaai verbrannte vor genau acht Jahren. In einer Arrestzelle der Abschiebehaftanstalt Büren. Ein Jahr später stellte die Staatsanwaltschaft die Ermittlungen ein. Auch hier zeigte sich die Behörde überzeugt, es habe sich um Selbstmord gehandelt. Sbaai soll, obwohl er sich nackt ausziehen musste und mit spezieller Anstaltkleidung versorgt wurde, ein Feuerzeug in die Zelle hineingeschmuggelt haben. Das Feuerzeug sei später am Körper des Toten gefunden worden. Ob Sbaai, der nicht gefesselt war, den Alarmruf betätigte, habe man aber nicht mehr feststellen können. Der Alarmknopf, der ein Dauerlichtsignal im Wachraum der Anstalt auslöst, sei zwar eingeschaltet gewesen, das aber könne auch durch die große Hitze in der Zelle verursacht worden sein.
Vor zwei Tagen führte die Bürener Initiative für Menschen in Abschiebehaft eine Mahnwache vor dem Gefängnis durch, um an den Tod von Rachid Sbaai zu erinnern. Für die Initiative sind noch immer zahlreiche Fragen nicht beantwortet. Selbst wenn der Gefangene sein eigenes Feuerzeug hätte in die Zelle schmuggeln können und auch dann, wenn er den Brand selbst gelegt hätte, träfe die Anstaltsleitung und die Beamten eine Mitverantwortung. In der fernab im Keller gelegenen Arrestzelle hat es keinen Rauchmelder, erst recht keine Sprinkleranlage gegeben, nicht einmal das Fenster war zu öffnen. Und das, obwohl es immer wieder vorgekommen sei, dass Gefangene aus Protest Matratzen oder Decken in ihren Zellen angezündet hätten. Nicht nachvollziehbar sei außerdem, warum die Staatsanwaltschaft Sbaai eine Selbstmordabsicht unterstellt habe, obwohl es dafür nicht das geringste Indiz gebe. Die Ermittlungsbehörde hatte die Akte mit der lakonischen Schlussfolgerung geschlossen, es könne, Zitat, „auch nicht unterstellt werden, dass S. im Angesicht des bevorstehenden Erstickungstodes diese Absicht aufgegeben und Hilfe herbeigerufen hätte“.
Seit dem 1. Januar 1993 sammelt in Berlin die so genannte „Antirassistische Initiative“ ihr bekannt gewordene Fälle von selbst oder fremd verschuldeten Todesfällen, deren Opfer Flüchtlinge sind. 138 Selbstmorde zählt die Initiative bis heute, außerdem 669 Selbstverletzungen und versuchte Selbstmorde. 327 Flüchtlinge seien durch Zwangsmaßnahmen oder Misshandlungen während der Abschiebung verletzt worden. Der letzte von der Bundesregierung herausgegebene Bericht über die Lage der Ausländerinnen und Ausländer in Deutschland zitiert die Auflistung der Initiative. Oury Jalloh und Rachid Sbaai sind darunter. Der kurdische Asylbewerber Mustafa Alcali noch nicht.
Am 27. Juni 2007 erhängte er sich in einem Einzelhaftraum der Justizvollzugsanstalt Frankfurt am Main. Alcali war 1992 aus der Türkei nach Deutschland geflohen, weil er dem Militärdienst entgehen wollte. Sein Antrag auf Asyl wurde 2004 abgelehnt, Folgeanträge ebenso. Im Mai 2007, kurz vor seiner drohenden Abschiebung, übergoss sich der 30-jährige auf offener Straße mit Benzin und wollte sich anzuzünden. Die Polizei verhinderte das, daraufhin wurde der verzweifelte Flüchtling in die Psychiatrische Klinik Hanau eingewiesen; schon zuvor, so berichtete seine Familie, sei er in stationärer psychiatrischer Behandlung gewesen. Mustafa Alcali war in der Türkei gefoltert, sein Vater war von türkischen Soldaten umgebracht worden.
Das Klinikum Hanau betreute ihn mehrere Wochen und riet dringend nicht nur von einer Abschiebung in die Türkei ab, sondern auch von einer Unterbrechung der Behandlung im Klinikum. Der Rechtsanwalt von Alcali legte das Gutachten den Behörden und Gerichten vor, die sich in den folgenden Wochen mit dem Fall befassten. Ein Amtsrichter aus Hanau überstellte Alcali dennoch in das Justizkrankenhaus Kassel und begründete seinen Entscheid mit einem Telefonat: Die abschiebewillige Ausländerbehörde habe ihm versichert, Alcali sei im Gefängniskrankenhaus ausreichend versorgt. Im Gefängniskrankenhaus urteilte der zuständige Psychiater Heinrich Wilmer - ohne Rücksprache mit der Hanauer Klinik -, Mustafa Alcali sei überhaupt nicht krank, er habe nur die übliche Angst vor der Abschiebung. Die anderslautende Stellungnahme des Klinikums Hanau sei ein typisches „Gefälligkeitsgutachten“. Der Inhaftierte sei, Zitat, „sowohl reise- als auch abschiebefähig“.
Am selben Tag lehnte das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge einen Asylfolgeantrag ab, der mit der im Hanauer Klinikum diagnostizierten schizophrenen Psychose begründet worden war; Folter- und Todesängste, so die dortigen Ärzte, prägten die Träume von Alcali, bestimmten seine wachen Gedanken, und immer wieder würden Wahnvorstellungen von ihm Besitz ergreifen. Die Beamten des Bundesamtes fällten ein anderes Urteil: Der Antragsteller sei hinreichend gesund. Und ganz im Sinne der gängigen Rechtsprechung: Die Krankheit liefere ihn nicht, Zitat, mit der „erforderlichen Wahrscheinlichkeit dem sicheren Tod aus“.
Um die nun erneut drohende Abschiebung abzuwenden, beantragte der Rechtsanwalt von Mustafa Alcali beim Landgericht Hanau, wegen der völlig gegensätzlichen psychiatrischen Gutachten einen weiteren Gutachter einzuschalten. Das Landgericht lehnt ab. Alcali, inzwischen in die Haftanstalt Frankfurt am Main verlegt, erhängt sich zwei Tage später, am 27. Juni 2007.
Die Menschenrechtsorganisation Pro Asyl hat die Chronologie dieses Falles veröffentlicht. Und stellt Fragen an die Verantwortlichen. Die entscheidende: Warum schlagen Asylbehörden, Ärzte und Gerichte immer wieder begründete Warnungen in den Wind, die auf das gefährdete Leben eines Flüchtlings hinweisen? Und erklären stattdessen die Abschiebung von Schutz Suchenden für geboten und für unbedenklich? Koste es auch den Tod.
(Gesendet in: Tageszeichen, WDR 3, 31.8.2007)

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Bürener Hetztirade
Zum Aachener Friedenspreis
Von Albrecht Kieser

Am 1. September, dem Antikriegstag, wird traditionell der Aachener Friedenspreis verliehen. Die Stadt, Gewerkschaften, Kirchen, Parteien, Nichtregierungsorganisationen und Einzelpersonen in Aachen loben diese Würdigung aus. Sie haben sich zu diesem Zweck über die üblichen weltanschaulichen und politischen Grenzen hinweg zusammen getan und dem Preis zu bundesweitem Ansehen verholfen. Heute ist die Auszeichnung an eine Gruppe gegangen, die seit 12 Jahren Abschiebehäftlinge in der Abschiebehaftanstalt Büren, der größten ihrer Art in Deutschland, betreut und nimmermüde diese Institution als mit den Menschenrechten unvereinbar anprangert. Es ist der „Verein Hilfe für Menschen in Abschiebehaft“.
In der Justizvollzugsanstalt Büren werden jährlich bis zu 2.000 männliche Ausländer ab 16 Jahren inhaftiert. Und zwar solche, die „ausreisepflichtig“ sind und das trotz behördlicher Aufforderung nicht freiwillig tun oder sich dem Verdacht ausgesetzt haben, sie wollten sich einer Abschiebung entziehen.
Mancher Minderjährige sitzt in Büren ein, der in Deutschland geboren wurde. Familienväter sind dort, die mit Frau und Kindern zehn und mehr Jahre in Deutschland gelebt haben. Oder junge Männer, die aus Ländern wie Afghanistan oder Somalia nach Deutschland geflohen sind und trotzdem keinen Asylschutz erhalten haben.
Der Bürener Verein kritisiert immer wieder öffentlich, dass diesen Menschen nur deshalb eines der elementarsten Menschenrechte, das auf Freiheit, genommen wird, damit die Behörden sie leichter abschieben können.
Die Initiative klagt auch die Zustände in dieser Haftanstalt an. Die schlechte medizinische Versorgung, die fehlenden Arbeitsmöglichkeiten, die langen Stunden, in denen die Männer in den Zellen eingeschlossen werden. Der Verein wendet sich immer wieder an die Medien und hat damit manchmal auch Erfolg, wenn ein besonders grausiger Fall sich ereignet hat. Zum Beispiel, als ein in Büren inhaftierter Vater auf der Beerdigung seines neugeborenen Kindes anwesend sein wollte und darum bat, auf den Friedhof gebracht zu werden. Die Anstaltsleitung lehnte ab, es sei kein Geld für die Begleitbeamten da.
Manchen Vollzugsbeamten quälen die Zustände in dieser Haftanstalt auch. Gerade wenn Kinder mit ihm Spiel sind oder Minderjährige einsitzen. „Menschenrechtlich“, sagte einmal ein Gefängnisbeamter in einem Interview, „menschenrechtlich mag das nicht in Ordnung sein. Aber rechtlich gesehen ist das hier in der Bundesrepublik geregelt.“
Genau aus diesem Grunde bestreiten einschlägige Kreise, dass die Bürener Initiative die Aachener Auszeichnung verdient hat. Wilhelm Bokermann, ehemaliger Vorsitzender des Bundes der Strafvollzugsbediensten Deutschlands, Abteilung Nordrhein-Westfalen, zeigt sich jedenfalls empört. Wie könne ein Verein, so fragt er in der Verbandszeitung „Der Vollzugsdienst“, allen Ernstes gewürdigt werden, der doch – Zitat – „die Abschiebehaft bedingungslos abschaffen“ wolle!? Damit würde der Verein ja immerhin – Zitat – „dem durch die Politik artikulierten Mehrheitswillen den Kampf ansagen“.
Was fast schon an Terrorismus grenzt – lässt sich der Strafvollzugsbediensteten-Lobbyist von der „Jungen Freiheit“ bestätigen. Das bekannte publizistische Scharnier zwischen Rechtsradikalen und Rechtskonservativen hat nämlich den Vorsitzenden der Bürener Initiative bei einer antifaschistischen Demonstration beobachtet und ihn als einen ausgemacht, für den – Bokerman zitiert die „Junge Freiheit“ zustimmend – „Gewalt offensichtlich zum politischen Geschäft“ gehört.
So wenig der altgediente Funktionär akzeptieren mag, dass es eine Menschlichkeit jenseits der Gesetze geben könnte, so wenig versteht er offensichtlich etwas vom Alltag in der Abschiebehaftanstalt Büren. Mehrheitlich sitzen dort Ausländer ein, die aus europäischen Ländern kommen, Bürgerkriegsflüchtlinge aus Ex-Jugoslawien oder politisch bzw. ethnisch Verfolgte aus der Türkei oder Arbeitsmigranten aus Osteuropa. Gerade die Jüngeren sprechen häufig fließend deutsch. Für Bokermann ist die Wirklichkeit eine andere. Zitat: „Die Vollzugsbediensteten haben fast ausschließlich mit Menschen zu tun, denen beispielweise unsere Sprache in der Regel fremd und unsere Kultur nicht vertraut ist.“
Warum diese Wahrnehmung, die aus der Minderheit der Häftlinge eine 90-prozentige Mehrheit macht? Weil dann der nächste Schritt seiner Logik härter trifft. Diese Menschen nämlich wollten – so schreibt Bokermann – „in der Mehrzahl als sogenannte Wirtschaftsflüchtlinge vom vermeintlichen deutschen Wohlstand profitieren“. Zitat Ende. Und da hört bekanntlich der Spaß auf. Leben doch immerhin – weiß der Pensionär – „mehr als 1 Million Arbeitslose in NRW (und) mehr als 2 Millionen Ausländer mit fremdem Reisepass. Das Land“, stöhnt Wilhelm Bokermann, „ist jetzt schon mit der finanziellen Absicherung seiner Bürgerinnen und Bürger überfordert.“
Logisch, dass angesichts der Bokermannschen Wahrheiten bestenfalls Kriminelle die Abschaffung der Abschiebehaft fordern können. Und die auch noch mit einem Friedenspreis zu bedenken – ungeheuerlich.
(Gesendet in Tageszeichen auf WDR 3, 1.9.2006)

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Kurden auf der Abschussliste
Europas Anti-Terror-Hysterie
Von Albrecht Kieser

Am 3. Mai 2002 setzte die Europäische Union die PKK, die Arbeiterpartei Kurdistans, auf ihre Hausliste terroristischer Organisationen. Das ist nicht deshalb pikant, weil es die PKK gar nicht mehr gibt (die Organisation hatte bereits einige Wochen zuvor ihre Auflösung bekannt gegeben). Pikant ist die Platzierung dieser kurdischen Organisation neben Al Quaida oder Dschihad aus anderen Gründen.
Die Türkei ist nämlich mit der EU-offiziellen Qualifizierung der PKK als Terrororganisation auf dramatische Weise ins Recht gesetzt. Man muss kein Freund der PKK sein, man muss ihre mitunter mörderischen Praktiken nicht verschweigen, mit denen sie jahrelang Kritiker in den eigenen Reihe verfolgte, man muss ihren Führerkult nicht gutheißen und weder das Pathos des bewaffneten Kampfes mögen noch das nicht weniger pathetische Trara für einen Ohrenschmaus halten, mit dem die PKK seit der Verhaftung von Abdullah Öcalan den Frieden und die Einheit mit der Türkei beschwört. Man kann also kritischen Abstand zu dieser größten kurdischen Organisation in der Türkei bewahren und wird dennoch das antiterroristische Manöver in Brüssel eine Kriegserklärung an Demokratie und Menschenrechte nennen müssen.
Die Türkei hat in einem jahrelangen Bürgerkrieg gegen die PKK ihre inneren Strukturen nachhaltig zerrüttet, sie hat in diesem Krieg 4.500 kurdische Dörfer dem Erdboden gleichgemacht und fast drei Millionen Kurden aus Ostanatolien vertrieben. Die Türkei verletzt in ihrem Krieg gegen den »kurdischen Separatismus« Tag für Tag die Menschenrechte. Ihre Sicherheitsorgane verfolgen Juristen, Schriftsteller, Menschenrechtler, sie foltern, morden und vergewaltigen. Das alles ist bekannt, vom Europäischen Gerichtshof in Straßburg dokumentiert und in zahlreichen Resolutionen des Europäischen Parlaments beklagt.
Der »Krieg gegen den Terror«, den die Türkei nun laut europäischer Gegnerliste auch mit Fug und Recht gegen die PKK – oder wer auch immer mit diesem Namen belegt werden wird – führen darf, adelt all diese Untaten plötzlich zu unverzichtbaren Rettungsmaßnahmen für die westliche Welt und ihre Werte. Und mehr noch: Die Ächtung der PKK gilt EU-weit und ihr haben sich alle zu unterwerfen. Die Liste wird z.B. NGOs, Menschenrechts- und Entwicklungsorganisationen zugestellt. Sie müssen mit Sanktionen rechnen, wenn sie Kontakt zu inkriminierten Organisationen halten. Ebenso wie Stiftungen, Universitäten, Volkshochschulen, Lehrer und ganz normale Bürger. Die europäische Terrorliste ist ein Kontaktsperregesetz.
Das Anliegen der PKK haben in Europa viele unterstützt. Angefangen bei Danielle Mitterand, der Witwe des ehemaligen französischen Staatspräsidenten, über den italienischen Autor Dario Fo bis zum portugiesischen Literaturnobelpreisträger José Saramago. Das Anliegen der PKK hat auch nach Auflösung der Organisation nicht an Bedeutung verloren: das Recht auf kurdische Sprache und Kultur, das Recht auf eine soziale und ökonomische Existenz, ohne als Separatisten verfolgt oder als »Bergtürken« geschmäht zu werden. Die Nachfolgeorganisation der PKK, die sich »Kurdischer Kongress für Freiheit und Demokratie« (KADEK) nennt, hat sich zur Durchsetzung dieser Ziele von jeglicher Gewaltanwendung losgesagt. Schon zuvor hatte die PKK seit drei Jahren keinerlei bewaffnete Aktionen mehr durchgeführt.
Warum trotzdem der Bannstrahl aus Brüssel? Die Antwort liegt in den Konsequenzen, die sich daraus ergeben, dass die PKK – und, wie bereits gefordert, auch ihre Nachfolgeorganisation, die KADEK – europaamtlich zur Geißel der Menschheit (»a real challenge to the world«) erklärt wurde. Die erste Konsequenz wurde schon angedeutet: Europa entledigt sich der Unterstützer der kurdischen Sache. Nicht nur, dass diese Unterstützer plötzlich als Terror-Sympathisanten zum Schweigen gebracht werden können: Wer hierzulande Asyl begehrt oder erhalten hat, weil er in der Türkei als Kurde oder kurdischer Aktivist verfolgt wurde, wird in Zukunft der türkischen Regierung gerade wegen seiner Aktivitäten ausgeliefert werden können. Eine Liste von 150 Oppositionellen, die er gerne umgehend aus Deutschland zurückbekäme, hat der türkische Innenminister bereits bei seinem letzten Besuch im Januar dem Kollegen Otto Schily ausgehändigt. Menschenrechte für Kurden – das wird nach dem Fallbeil EU-Liste wieder zu einer innertürkischen Angelegenheit werden. Auf welche Weise – und hier liegt die zweite Konsequenz des EU-Beschlusses – ist klar: Alle türkischen Gewaltmethoden gegen Kurden werden als unverzichtbarer Bestandteil des antiterroristischen Kampfes gerechtfertigt werden. Auch die völkerrechtswidrigen Invasionen des Nord-Irak, die die Türkei auf der Jagd nach kurdischen Oppositionellen immer wieder vornimmt, werden in der Folge des Ministerratsbeschlusses dann wohl nicht nur gebilligt, sondern sogar gefördert werden.
Damit stünde, und das wird die europäisch-türkische Gesamternte ausmachen, der Aufnahme der so lange kritisierten Türkei in die EU nichts mehr im Wege. Dem Terror sei dank.
(Gesendet im Kritischen Tagebuch, WDR 3, am 15.5.02)

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Händewaschen!
Das neue Rezept der Weltbank gegen das Sterben in der Welt
Von Gerhard Klas

»Wascht euch die Hände, und ihr werdet überleben!« lautet die jüngste Botschaft der Weltbank an die Adresse der Armen in der Welt. Zusammen mit der Londoner Schule für Hygiene und Tropenmedizin präsentierte sie heute in einem Ausstellungszentrum zur Wasserversorgung nahe dem südafrikanischen Johannesburg, derzeit Sitz des UN-Gipfels zur Nachhaltigkeit, ihre bahnbrechende Idee. Weil man zum Händewaschen nicht nur Wasser, sondern auch Seife braucht, saßen auf dem Podium auch Vertreter der Waschmittelkonzerne Procter & Gamble, Unilever und Colgate-Palmolive. Public Private Partnership, kurz PPP, nennt man diese neuzeitlichen Koalitionen, die angetreten sind, die Welt vom Elend zu befreien – in diesem Fall von der Diarrhöe.
Zwar stimmt es, dass mehrere Millionen Menschen jedes Jahr an Durchfallerkrankungen sterben. Die Erreger werden auch durch Hautkontakt übertragen – aber nicht nur. Hauptursache ist nach wie vor verschmutztes Wasser. Und gerade bei der Wasserversorgung gibt es Hunderte, wenn nicht Tausende von PPPs in den Ländern der Dritten Welt. Den wenigsten ist es allerdings gelungen, eine umfassende Versorgung mit sauberem Wasser, geschweige denn Trinkwasser zu gewährleisten. Im Gegenteil: Kann die Kundschaft nicht zahlen, und das gilt für viele Arme dieser Welt, wird ihnen kurzerhand der Wasserhahn zugedreht. Schließlich wollen auch die Unternehmen einen Gewinn machen, die ins Geschäft mit dem Wasser eingestiegen sind. Und mit den Armen, die ihre Rechnung nicht bezahlen können, lassen sich nun mal keine Geschäfte machen. Übrig bleiben die Eliten in den Ländern der Dritten Welt. Ein lukrativer Markt – allein in Johannesburg gibt es z.B. Tausende private Swimming-Pools.
»Save a million lives« – »Rettet eine Million Leben« heißt es in der Ankündigung der Weltbank. Aber Seife ersetzt weder sauberes Wasser noch ausreichende und vitaminreiche Ernährung – eine wesentliche Voraussetzung für ein intaktes Immunsystem.
Das neue Programm der Weltbank wird Durchfallerkrankungen ebenso wenig reduzieren wie die Hartz-Kommission die Arbeitslosigkeit senkt. Aber es ist immerhin eine groß angelegte Werbekampagne für die Hygieneindustrie. Vielleicht setzt sich demnächst der Weltbankpräsident dafür ein, einen Seifen-Sonderfonds aus den Steuergeldern der Industrienationen einzurichten, um die Armen der Welt mit den alltäglichen Errungenschaften der westlichen Zivilisation zu beglücken und die Taschen der Konzerne zu füllen.
Damit auch die Ausstellungsbesucher – die meisten von ihnen sind Funktionäre auf dem UN-Gipfel in Johannesburg – die Seife nicht vergessen, wenn sie ihre Hände in Unschuld waschen, dürfen sie an eigens installierten Waschbecken ausprobieren, wie man das richtig macht. Und wer es dann noch immer nicht begriffen hat, darf sich auch ein Päckchen Seife mit nach Hause nehmen.
(Gesendet im Kritischen Tagebuch, WDR 3, am 2.11.2002)

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Nicht im Interesse der Lohnabhängigen
Die Beschäftigungspolitik der EU
Von Gerhard Klas

Kaum ein Land in der Europäischen Union, in dem in den vergangenen Monaten keine Arbeitskämpfe stattgefunden hätten. Dabei ging es nicht nur um Prozente für die Lohnerhöhung: Generalstreiks in Italien, Griechenland und in der vergangenen Woche in Spanien richteten sich gegen die Pläne der jeweiligen Regierungen, den Kündigungsschutz aufzuweichen, die Rente zu privatisieren, die Bedingungen für die Arbeitslosenunterstützung zu verschlechtern oder sie gleich ganz abzuschaffen.
Arbeitsmarktpolitik, so die weit verbreitete Ansicht auch nationaler Gewerkschaftsverbände, finde immer noch in erster Linie im nationalen Rahmen statt. In Sevilla, so schien es vergangene Woche, stellte der EU-Regierungsgipfel lediglich die europäische Kulisse für den nationalen Generalstreik. Tatsächlich aber mischt sich seit 1994 vor allem die EU-Kommission verstärkt in die nationale Beschäftigungs- und Sozialpolitik ein. Gemeinsam mit den Finanzministerien und Zentralbanken der Mitgliedsländer erarbeitet sie so genannte »Große Wirtschaftspolitische Leitlinien«, denen auch die Beschäftigungs- und Sozialpolitik untergeordnet ist. Die Regierungsgipfel nicken diese Leitlinien in der Regel ab, dem Parlament der Europäischen Union müssen sie nur noch zur Kenntnisnahme vorgelegt werden. Das ist keinesfalls ein reiner Verwaltungsakt, sondern hat beträchtliche Auswirkungen.
Wie kann die EU mit den USA erfolgreich konkurrieren? Das ist die Leitfrage der »Großen Wirtschaftspolitischen Leitlinien«. Positiv beantworten lässt sie sich nur, wenn die europäischen Investitionsbedingungen profitabler, d.h. die Kosten für den Faktor Arbeit möglichst niedrig sind. In den siebziger und achtziger Jahren haben die USA flächendeckend einen Niedriglohnsektor eingeführt. 1996 gab deshalb die EU-Kommission das Ziel aus, die Lohnkosten für so genannte gering qualifizierte Tätigkeiten um zwanzig bis dreißig Prozent zu senken. Damit auch Erwerbslose diese Billigjobs noch attraktiv finden, forderten die Leitlinien gleichzeitig, die Leistungen für Erwerbslose und Bezieher von Sozialleistungen entsprechend abzusenken. Und zwar in allen Ländern der Europäischen Union.
In der zweiten Hälfte der 90er Jahre fiel streikenden Beschäftigten und protestierenden Erwerbslosen in Frankreich auf, dass die Arbeitsmarktpolitik längst nicht mehr allein auf nationaler Ebene bestimmt wird. Sie nahmen Kontakt zu gewerkschaftlichen Basisorganisationen und Vereinigungen der Erwerbslosen im europäischen Ausland auf. Zusammen mit ihnen organisierten sie die »Europäischen Märsche gegen Erwerbslosigkeit, ungeschützte Beschäftigung und Ausgrenzung«, die 1997 in einer Großdemonstration gegen den damaligen EU-Regierungsgipfel in Amsterdam mündeten – damals von nicht mal einer Handvoll nationaler Gewerkschaftsverbände unterstützt. In Amsterdam forderten sie eine europäisch koordinierte Beschäftigungspolitik, um der damals auch offiziell noch ansteigenden Erwerbslosenquote Einhalt zu gebieten. Zum Beispiel mit radikaler Arbeitszeitverkürzung und einklagbaren sozialen Grundrechten.
Zunächst schien es, als sei der Europäische Rat tatsächlich von den 50.000 Kritikern der EU-Politik in Amsterdam beeindruckt gewesen. Der Rat berief wenige Monate später in Luxemburg einen eigenen Beschäftigungsgipfel ein, aus dem 1998 erstmals die »Beschäftigungspolitischen Leitlinien« hervorgingen. Doch ihre Stoßrichtung hatte mit den Protesten nichts gemein: Statt Arbeitszeitverkürzung und sozialen Grundrechten sind die Beschlüsse den Zielen der »Großen Wirtschaftspolitischen Leitlinien« untergeordnet: Ausbau der Wettbewerbsfähigkeit gegenüber den USA, Deregulierung der Märkte und natürlich steigende Profite für die Konzerne. Mittlerweile beginnt auch beim EGB, dem Europäischen Gewerkschaftsbund, die Einsicht zu reifen, dass die Politik der EU nicht den Interessen der abhängig Beschäftigten entspricht. Erstmals mobilisierte er im Dezember 2000 fast 100.000 Mitglieder der nationalen Gewerkschaftsverbände zum Regierungsgipfel nach Nizza. Ein Jahr protestierten genau so viele Gewerkschafter in Brüssel.
Die mittlerweile jährlich vorgestellten »Beschäftigungspolitischen Leitlinien« definieren die Politik, die von den Regierungen der EU-Mitgliedsstaaten in so genannte »Nationale Aktionspläne« umgesetzt werden müssen. Der Überschrift entsprechend geht es um Vollbeschäftigung in der EU, dem Inhalt nach jedoch darum, den »Rohstoff Arbeit besser zu verwerten«. Die portugiesische Ratspräsidentschaft verwendete diesen Terminus erstmals im Jahr 2000. Er zieht sich bis heute durch die »Beschäftigungspolitischen Leitlinien«.
Während der gerade beendeten spanischen Ratspräsidentschaft ging es um die geografische Mobilität der Lohnabhängigen. Die sei zu niedrig, befanden Kommission und Ratsvertreter. Im Jahr 2.000 seien nur 225.000 Menschen, dass sind 0,1 Prozent der EU-Bevölkerung, von einem Mitgliedsstaat in einen anderen gewechselt. In den USA, so lamentieren die EU-Gremien, wechseln fast sechs Prozent der Bevölkerung jährlich den Bundesstaat. Die Hindernisse in der EU sollen deshalb so schnell wie möglich ausgemacht und beseitigt werden.
Dazu zählen auch die unterschiedlichen Steuer- und Sozialleistungssysteme, die nach dem Willen der Kommission reformiert werden sollen. Dadurch wird der Druck auf einige Mitgliedsstaaten enorm erhöht werden, ihre Sozialsysteme auf niedrigem Niveau anzugleichen. Nicht alle EU-Länder haben bisher die paritätisch finanzierte Altersversorgung aufgekündigt oder die Privatisierung der Gesundheitsversorgung derart weit getrieben wie in Großbritannien. Als erster Schritt ist die Einführung einer EU-Krankenversicherungskarte geplant, die zunächst allerdings noch nicht die nationale Versicherungskarte ersetzten soll.
Doch was ist wohl das größte Hindernis, wenn es um überregionale Arbeitsmigration geht? Vor allem gewachsene soziale Bindungen verhindern, die Heimat auf Dauer zu verlassen. Zumindest dann, wenn die materiellen Lebensbedingungen noch halbwegs erträglich sind. Der Europäische Rat und die EU-Kommission wollen den Rohstoff Arbeit mit letzter Konsequenz ausbeuten. Die soziale Grundsicherung müssen sie dafür weiter durchlöchern, zum Beispiel die Sozialhilfe und Arbeitslosenunterstützung. Auch in Deutschland sollen die Nationalen Aktionspläne der EU umgesetzt werden. Die Hartz-Kommission lässt grüßen.
(Gesendet im Kritischen Tagebuch, WDR 3 am 26.6.2002)

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