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reportagen

 

 

Pipeline for the people? Bilanz des Erdölprojektes Tschad/Kamerun
Vor 20 Jahren hatten Exxon und die tschadische Regierung die erste Vereinbarung zur Prospektion unterschrieben.
Von Birgit Morgenrath

Landung in Australien
Spuren von Egon Erwin Kisch auf dem fünften Kontinent
Von Karl Rössel

Kanthers Vollstrecker
Befindlichkeiten in deutschen Asylbehörden – Der Fall Sis
Von Albrecht Kieser

Pepito Bosch
Der Tod einer philippinischen Kultfigur
Von Karl Rössel

 

Pipeline for the people? Bilanz des Erdölprojektes Tschad/Kamerun
Vor 20 Jahren hatten Exxon und die tschadische Regierung die erste Vereinbarung zur Prospektion unterschrieben.
Von Birgit Morgenrath

Es begann wie ein Märchen: „Vertreter von Esso kamen, um uns zu ‚sensibilisieren’. Wir sollten verschiedene Projekte für unser Dorf aussuchen.“ Tamro Mbaidjéhuernan, der Dorfchef von Ngalaba, sitzt unter einem kolossalen Mangobaum und erinnert sich nachdenklich an die Anfänge des Erdölprojektes im Tschad. „Man hat uns Schulen und Gesundheitsstationen versprochen“ erzählt er, „wir bekämen Zugang zu Trinkwasser sowie eine Straße und einen Markt.“ Zigtausende Menschen in den Dörfern im Ölfördergebiet hofften Ende der 90er Jahre auf ein wenig Wohlstand, mehr Geld für bessere Nahrung und vielleicht sogar für einen Kühlschrank. Die Erdölförderung im Tschad und die Pipeline sowie die Verschiffung im Nachbarstaat Kamerun sollte ein Modellprojekt der Weltbank werden: „Es handelt sich um ein beispielloses Vorhaben,“ heißt es in einer Pressemitteilung der Bank im Juni 2000 „bei dem der Reichtum aus den Öleinnahmen unmittelbar zum Vorteil der Armen eingesetzt wird.“
Unter der Führung von „Esso Tschad“, einer Tochter des us-amerikanischen Ölgiganten Exxonmobil, fördert ein Konsortium, zu dem außerdem die US-Firma Chevron-Texaco und Petronas aus Malaysia gehören, das Rohöl im Tschad. Von dort wird es durch eine unterirdische Pipeline 1000 Kilometer weit durch Kamerun bis an die Atlantikküste zur Verladung auf Supertanker geschickt. Für 4,2 Milliarden Dollar wollen die Konzerne 25 Jahre lang Öl im Tschad fördern. Exxon, das nach Marktwert größte Unternehmen der Welt macht Geschäfte mit einem der ärmsten Länder der Welt, geprägt von jahrzehntelangen Bürgerkriegen.
Darauf hatten seinerzeit schon Vertreter der Zivilgesellschaft hingewiesen, wie etwa
Samuel Nguiffo, Jurist und Direktor des „Centre pour l'Environnement et le Développement“, CED, in Kamerun. Sie hätten damals schon gewusst, dass der Ölreichtum in manchen Ländern Diktaturen, Korruption und die Verletzung von Menschenrechten befördert hätte, erklärt er, „aber die Weltbank sagte: ‚Jetzt sind wir dabei und Sie werden sehen, das Erdöl wird die Entwicklung voranbringen.’“
Mangobäume ohne Früchte
Als das geschäftige Heer von Bauleuten vor acht Jahren mit den Arbeiten für die Erdölförderung begann, legten sie rund um Ngalaba breite Sandstraßen entlang der zahlreichen Öl-Bohrlöcher an. Für ihr verlorenes Land erhielten die Dorfbewohner individuelle Entschädigungen. Esso Tschad gibt sich heute stolz über das Geleistete. Die Gesamtsumme der Entschädigungen für Land habe im Jahr 2007 1,3 Millionen Dollar in bar und als Sachleistungen betragen und seit Beginn des Projektes seien fast 18,3 Millionen Dollar an individuellen Abfindungen ausgezahlt worden schreibt Esso im ersten Vierteljahresbericht des Konzerns 2008.
Dabei hatte der Konzern schon vor zehn Jahren in Kamerun begonnen, ohne Verhandlungen mit der Bevölkerung Erstattungen auszuzahlen. Für eine Bananenstaude 50 Eurocent, für eine Ölpalme zwei Euro, für Kakao- und Kaffeesträucher maximal 2,50 Euro und für Orangen-, Mango- und Avocadobäume 5,50 Euro pro Exemplar. Wer sich darauf einließ und eine Quittung unterschrieb, wurde fotografiert und verzichtete damit auf jegliche Nachforderungen. Die Bauern beschwerten sich und NGOs beider Länder unterstützen die Bevölkerung in den 375 Dörfern entlang der Pipeline in ihrem zähen Kampf für höhere Entschädigungen. Der tschadische Agrar-Ingenieur Djeralar Miankéol berechnete den Wert für den Mangobaum neu, der bis zu hundert Jahre alt werden kann. „Man kann einen solchen Baum nicht einfach fällen!“ erregt sich noch heute. Davon könnten ganze Generationen leben. „Ein Baum, der 10 Jahre voll produziert, hat einen Wert von umgerechnet 1500 Euro. Esso hat das am Ende akzeptiert.“
Dann aber trat ein neues Problem auf, erzählt der Dorfchef von Ngalaba. Die Mangobäume waren nicht mehr so ertragreich wie vorher. „Das liegt an der Luftverschmutzung,“ vermutet er. Tatsächlich produzieren die vielen Esso-Fahrzeuge große Mengen Staub auf den buckligen Sandpisten. Starker Wind verweht die Staubwolken; sie sinken nur sehr langsam und bedecken acht Monate im Jahr Menschen, Tiere und Pflanzen mit einer rostroten dicken Schicht. Die Blätter vieler eigentlich immergrüner Baumriesen werden hart wie Pergament und rollen sich ein. Der Staub verhindert die Photosynthese; die Bäume sterben. Esso Tschad behauptet, die Pisten regelmäßig mit Wasser zu berieseln, aber die Bevölkerung merkt von diesen Verbesserungen nichts.
Die Weltbank stieg im Juni 2000 trotz internationaler Kampagnen der Zivilgesellschaft in das umstrittene Projekt ein. Die Mitte der 90er Jahre in Tschad und Kamerun entstandene Zivilgesellschaft hatte mit tatkräftiger und finanzieller Unterstützung aus den USA und Deutschland, u.a. von Misereor, viele Mängel des Projektes, zum Beispiel die völlig unzureichende Partizipation der Bevölkerung und die mangelhafte Abschätzung der Umweltschäden, kritisiert. Aber die Weltbank gewährte 200 Millionen Dollar Kredite und 46 Millionen Dollar für begleitende Programme in den beiden afrikanischen Ländern. Damit gab sie dem umstrittenen Projekt den Anstrich von Seriosität und „Entwicklungshilfe“. Außerdem erließ sie strenge Umweltauflagen und verpflichtete die tschadische Regierung zu einem Armutsbekämpfungs-Gesetz. Das sollte verhindern, dass Gelder verschwinden: Netto Zahlungen an den Staat überwies das Konsortium auf ein Sperrkonto in London. Davon wurden 10 Prozent in einen Zukunftsfond eingezahlt. Von dem Rest sollte der Löwenanteil in die ländliche Entwicklung und ein kleiner Teil direkt in die Erdölförder-Region fließen, zum Beispiel nach Ngalaba.
Wie eine fette Spinne
The „Home of the World Greatest Drilling Team“ nennt Esso die Basis von Komé. Breite Straßen führen dorthin, an ihren Rändern stehen rotlackierte Pumpen; dazwischen grasen hellgraue Rinder mit geschwungenen Hörnern. Eine scheinbar saubere und harmlose Technik. Hinter hohen Zäunen liegt die brummende Erdölmaschinerie: eine in der Sonne glänzende Großanlage mit stählernen Pumpen, vier Turbinen für das werkseigene Kraftwerk, Öltanks und Kontrollzentrum. Irgendwo liegen auch die Wohnquartiere für die Arbeiter sein. Zwar sollen laut Esso Tschad fast 90 Prozent der Beschäftigten in beiden Ländern Einheimische sein, aber auf der Basis arbeiten rund 800 Facharbeiter aus aller Herren Länder: Südafrikaner, Inder, Filippinos.
Wie eine fette, furchtlose Spinne liegt die Basis im Zentrum der Zone und breitet sich gierig weiter aus. Die Knotenpunkte ihres Netzes sind unbekannt, die Röhren verlaufen unterirdisch. Statt wie geplant drei Erdölfelder werden inzwischen sechs ausgebeutet. Statt an 300 Stellen haben sich die Bohrer inzwischen an fast 500 Fundpunkten in die Erde gewühlt. Inzwischen wurde der ursprünglich kalkulierte Landverbrauch um 65 Prozent überschritten.
Die Einheimischen können sich seit Mai 2007 nicht mehr frei in der Förder-Zone bewegen. Das Regime und Esso Tschad fürchten offenbar Drohungen von Seiten einiger Rebellengruppen, die seit Jahren den Autokraten Idriss Déby bekämpfen, der sich 1990 im Tschad an die Macht geputscht hatte. Das tschadische NGO-Netzwerk hatte schon 1997 vor bürgerkriegsähnlichen Zuständen gewarnt. Damals hatten die Truppen des Präsidenten einen Aufstand bewaffneter Oppositioneller im Erdölgebiet mit brutaler Gewalt niedergeschlagen. Es war zu grausamen Massakern an der Zivilbevölkerung gekommen. Ein internationale Kampagne von NGOs, darunter aus Deutschland auch Misereor und Brot für die Welt, hatte gegen diese Menschenrechtsverletzungen protestiert. Vergeblich. Die Weltbank hatte sich nicht beeindrucken lassen.
Aber die Zivilgesellschaft sollte Recht behalten: 2001 kaufte Präsident Deby aus Steuernachzahlungen der Ölkonzerne in Höhe von 25 Millionen US-Dollar Waffen. 2005 änderte er das Armutsbekämpfungsgesetz. Der Zukunftsfond wurde gestrichen und Waffenkäufe offiziell ermöglicht. Die Weltbank ließ nach kleinen Änderungen des Gesetzes Präsident Deby gewähren. Anfang Februar dieses Jahres und noch einmal Mitte Juni haben Rebellen gewaltsam versucht, Idriss Deby zu stürzen. Beide Male gelang es dem Diktator, die Aufständischen zurückzuschlagen.
Warum unterstützt die Weltbank bis heute ihr „Modellprojekt“ in dieser korrupten und gewalttätigen Diktatur? „Die Mission der Weltbank besteht nicht darin, Regierungen zu ändern,“ antwortet Noubissie Ngankam, ein erfahrener Manager bei der Weltbank im Tschad. „Uns ist vollkommen klar, dass Korruption in manchen Ländern wie ein Krebs wirkt. Aber das ist kein Grund, diese Länder zu meiden.“
Endemische Korruption, mangelnde Kompetenz und ungenügende Transparenz im Tschad hatten die Weltbank und das Konsortium – oft erst nach Aufforderung durch das internationale Netzwerk – mit zahlreichen Überwachungs- und Managementplänen zu verhindern versucht. Außerdem sorgten Weltbank und Zivilgesellschaft für mehr oder weniger unabhängige Kontrollinstanzen. Und den gesamten Prozess überwachten internationalen Kontrolleure dreier Kommissionen unabhängiger Experten. Das Erdölprojekt ist daher zweifellos eins der bestüberwachtesten Projekte der Weltbank. Zumindest auf dem Papier.
Der Beamtenapparat der autoritären Deby-Regierung aber lässt sich nicht in die Karten schauen. Und selbst Esso Tschad und die Weltbank verweigern wichtige Informationen wie Berilengar Dathol, Vertreter der Zivilgesellschaft im offiziellen Kontroll-Kollegium, berichtet: „Es ist schwierig, Informationen über Produktionsziffern, Anzahl der Bohrlöcher oder den Ölpreis im Tschad zu bekommen.“ Häufig würden die Kontrolleure mit Ausreden abgespeist: „Sie verweisen auf die Verträge, die geheim seien und wiegeln ab: ‚Fragen Sie doch Ihre Regierung.’ Das ist wirklich ein Teufelskreis.“
Fischer ohne Fischfang
Vor Kribi, dem schönsten Badeort Kameruns, landet das schwarze Gold aus der unterirdischen Pipeline in einem schwimmenden Terminal. Kaum auszumachen liegt der Koloss zwölf Kilometer vor den malerischen Stränden im hellen Dunst des tropischen Meeres. Kein unschöner Anblick stört Touristen, die hier die Kirche, den Leuchtturm und andere Relikte aus der deutschen Kolonialzeit besichtigen. Bis zu fünf mal im Monat legen Tanker am Verladeschiff an, die meisten aus den USA, die die Hälfte des tschadischen Öls abnehmen. An Land entladen die Fischer ihre Pirogen. Die Küchenmeister der zahlreichen Restaurants kaufen die großen Fische mit zackigen Zähnen. Die Einheimischen begnügen sich mit den kleinen und kleinsten Fischen.
Der Fischer Joqui Munenge erzählt, dass er heute nicht hinausgefahren ist. „Seit die Pipeline installiert wurde, ist es sehr schwer, genug Fisch zum Leben zu finden.“ Heutzutage brauchten die Fischer zwei Tage, um genug Fisch zu fangen. „Früher kamen wir nach fünf Stunden auf dem Meer zurück an Land.“ Er könne nicht mal mehr seine sechs Kinder auf die Schule schicken. „Früher haben manche unserer Söhne und Töchter sogar promoviert – dank der Einkünfte aus dem Fischverkauf.“ Firmin Semboung von der kamerunischen Umweltorganisation FOCARFE erklärt, das Konsortium habe für die Pipeline direkt vor der Küste ein großes natürliches Riff gesprengt. Genau da, wo die Einheimischen traditionell gefischt haben. „Das war eine ökologische Nische für den Fisch,“ erklärt er, „COTCO hat als Ersatz ein vier Kilometer langes künstliches Riff aus Gummireifen errichtet.“ Dieser Maßnahme der kamerunischen Tochter des Öl-Konsortiums, COTCO, vom Juli 2006 hat auch die Weltbank zugestimmt. Nun aber verweigere sie, die Auswirkungen dieses Gummi-Riffs auf den Fischbestand wissenschaftlich untersuchen zu lassen. Mit dem Argument, es fehlten Vergleichsdaten aus der Zeit des natürlichen Riffs. Firmin hält das für eine schlechte Ausrede: „Man könnte für einen Vergleich Daten über das Meeresleben anderer Riffs vor der Küste Kameruns erheben,“ meint er. „Exxon muss seine Verantwortung übernehmen.“
Aber auch der Staat Kamerun ist an einer Aufklärung nicht interessiert. Er ist zu 15 Prozent an der Ölgesellschaft beteiligt. Das Regime des langjährigen Potentaten Paul Biya denkt nicht daran, die Einnahmen aus dem Pipeline-Projekt zu veröffentlichen. Hier hat sich die Weltbank mit der bloßen Versicherung zufrieden gegeben, dass das Geld für Armutsbekämpfung ausgegeben werde. Auch hier kann von unabhängiger Kontrolle keine Rede sein: Das sogenannte Kontrollorgan ist direkt bei der nationalen Erdölgesellschaft angesiedelt. Die füllte lange Jahre die schwarze Kasse des Präsidenten.
Vorzeigeprojekt misslungen
20 Jahre, nachdem Esso mit der tschadischen Regierung eine Konvention zur fortgesetzten Prospektion und zur Förderung des Erdöls unterzeichnete, scheint fest zu stehen: Das Prestigeprojekt der Weltbank ist gescheitert. Trotz der Gesamteinnahmen zum Beispiel des Tschad von 2,5 Milliarden Dollar. Der Weltbankvertreter Noubissie Ngankam beharrt zwar darauf, dass die Beteiligung der Weltbank Schlimmeres verhütet habe. „Das Geld läge heute auf den Konten von Privatpersonen. Niemand käme an Informationen heran, wie wir sie heute in aller Öffentlichkeit haben. Die Nichtregierungsorganisationen säßen nicht mit der Weltbank zu regelmäßigen Treffen an einem Tisch.“ Zwar unterstreichen auch einige NGO-Vertreter, dass die Weltbank eine wesentliche Rolle als Beschwerdeinstanz gespielt hat und dadurch die Entschädigungen höher ausgefallen sind als von Exxon geplant.
Fakt ist aber, dass die Verantwortlichen in Weltbank, Konsortium und Regierungen viele Verbesserungsvorschläge ignoriert haben. Ausnahmslos alle Prüfungsorgane klagen über die Folgenlosigkeit ihres Tuns, auch die von der Weltbank bestellten internationalen. Selbst der bankeigene “Abschlussbericht” stellt 2006 – neben vielen Schönfärbereien – im typischen Bürokratenjargon fest, es sei „unmöglich zu bestätigen, dass das Wachstum aus dem Öl signifikante Auswirkungen auf die arme Bevölkerung des Tschad hatte, insbesondere in den ländlichen Gebieten.“ Und weiter: „Das Niveau der Unsicherheit ist derart erhöht, dass es noch unmöglich ist, in diesem Stadium, eine irgendwie geartete Nachhaltigkeit zu erkennen.“
Samuel Nguiffo vom CED bringt es auf den Punkt. Die Ärmsten im Tschad hätten nicht von den Öleinnahmen profitiert, stellt er fest. Manche Menschen seien heute sogar ärmer als vorher. „ Wenn es jemals ein Projekt auf diesem Planeten gab, das die Weltbank gut ausführen musste, dann war es dieses. Ich glaube nicht, dass es an Nachlässigkeiten lag. Ich glaube man hat alles Menschenmögliche getan, aber man hätte die Schwierigkeiten erkennen müssen“. Die Zivilgesellschaft habe die Bank zum Beispiel von Anfang an gewarnt, „dass Präsident Deby niemals akzeptieren wird, die Öleinnahmen kontrollieren zu lassen - und das auch noch von außerhalb! Wir haben das vom ersten Tag an gewusst. Und ich denke, die Bank hat es auch gewusst.“
(Publiziert in: Publik Forum, Februar 2009)

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Landung in Australien
Spuren von Egon Erwin Kisch auf dem fünften Kontinent
Von Karl Rössel

Der »Station Pier« im Hafen von Melbourne, ein auf Stelzen gebauter Landesteg mit Eisenbahnanschluss, Ladekränen und Abfertigungshallen aus Stahlverstrebungen und Glas, ragt tief in die »Port Philip Bay« hinein. In dieser weiten Bucht an der Südküste des fünften Kontinents herrschte noch bis mit Mitte des 20. Jahrhunderts und der Einführung von Linienflügen zwischen Europa und Australien »ein reger Schiffsverkehr«. Denn hier war, wie Pat Grainger, Mitarbeiterin der historischen Gesellschaft der Stadt Melbourne erklärt, »die Hauptanlegestelle der Einwandererschiffe, die aus Europa kamen«. Heute ist der Passagierhafen verwaist. Die zweistöckige Ankunftshalle steht leer, die Fenster der Zollstation sind zerbrochen und die Schienen auf dem Kai sind verrostet. Nur einige verblichene Inschriften an den Außenwänden der Gebäude verweisen noch auf die Namen der Schiffe, die früher hier vor Anker gingen. Dazu gehörte auch die Strathaird, ein Schiff, das in die australische Geschichte eingehen sollte, wie Pat Grainer erzählt: »Mit der Strathaird kam Egon Erwin Kisch 1934 nach Australien, um auf einem Kongress gegen Krieg und Faschismus in Melbourne eine Rede zu halten. Da ihm – wie zuvor schon in anderen australischen Häfen – auch in Melbourne die Einreise verweigert wurde, sprang er aus Protest von Deck auf den Pier, eine wagemutige Tat, bei der er sich ein Bein brach. Das war genau hier an dieser Stelle.«
Mit etwas Glück findet man in australischen Antiquariaten auch eine vergilbte und inzwischen recht kostspielig gewordene Ausgabe eines Buch aus dem Jahre 1936 mit dem Titel On The Pacific Front, in dem ein Julian Smith »die Abenteuer von Egon Erwin Kisch in Australien« beschreibt. Es enthält auch eine Sammlung historischer Fotos im Anhang. Die Bilder zeigen Egon Erwin Kisch als einen energisch wirkenden, leicht untersetzten Herrn mit buschigem schwarzen Haar, Seitenscheitel und Schnurrbart, stets elegant gekleidet, in Schlips und dunklem Anzug, und meist mit einer Zigarette im Mundwinkel. Auf einem Foto, laut Bildunterschrift »eine halbe Stunde vor seinem Sprung von der Strathaird« aufgenommen, ist Kisch beim Deckspaziergang zu sehen, ein Buch unter dem Arm und einen kleinen Jungen an der Hand. Auf dem nächsten liegt er schon mit gebrochenem Bein auf einer Bahre, und vier Matrosen tragen ihn von Bord, um ihn ins Krankenhaus zu bringen. Auf dem letzten Bild steht Kisch auf Krücken gelehnt, aber zufrieden lächelnd, im Kreise seiner australischen Schriftstellerkollegen.
Der Autor dieses Buches musste seine australische Leserschaft 1936 im ersten Kapitel erst einmal darüber aufklären, »welche Art Friedensdelegierter« dieser Egon Erwin Kisch war: »Er war ein Autor und Journalist, der über viele Jahre Deutschland zu seinem Zuhause gemacht hatte, sehr weit gereist und in ganz Europa bekannt war. Er hatte 22 Bücher geschrieben. In der Nacht, als der Reichtagsbrand Hitler den Vorwand lieferte, alle unabhängigen Denker festzunehmen, wurde auch Egon Kisch in Deutschland ins Gefängnis geworfen. Bittere Erfahrungen in einem faschistischen Kerker folgten, in dem einer seiner Freunde, der anarchistische Poet Erich Mühsam, langsam zu Tode gequält wurde.«
Tatsächlich hatte sich Egon Erwin Kisch in der Weimarer Republik vor allem als Schöpfer einer neuen literarischen Form der sozialkritischen Reportage einen Namen gemacht. Kisch schrieb in der ersten Person und griff auch häufig selbst in die Geschehnisse ein, über die er berichtete. Mit dieser Methode deckte er einige politische Skandale auf, weshalb der Titel seines Buches Der Rasende Reporter irgendwann zum Spitznamen für den Autor wurde.
Eine der spektakulärsten Geschichten, in denen Kisch eine herausragende Rolle übernahm, spielte 1934/35 im fernen Australien. Und dort sorgt der »Fall Kisch« noch heute, mehr als 65 Jahre später, für brisante politische Debatten.
Egon Erwin Kisch wurde 1885 in Prag geboren, lebte und publizierte jedoch bis Anfang der dreißiger Jahre des 20. Jahrhunderts in Deutschland. Von den Nazis 1933 verhaftet, kam er nur deshalb wieder frei, weil er die tschechische Staatsbürgerschaft besaß. Doch aufgrund seiner jüdischen Abstammung musste er das Land verlassen und ging nach Paris. Dort schloss er sich der von linken Intellektuellen gegründeten internationalen »Bewegung gegen Krieg und Faschismus« an. Und als deren Delegierter wurde er von antifaschistischen Initiativen in Australien 1934 nach Melbourne eingeladen, um auf einem Kongress gegen den drohenden Weltkrieg zu sprechen.
Sechs Wochen dauerte die Überfahrt, doch als das Schiff endlich auf dem fünften Kontinent landete, verweigerte die australische Regierung Kisch die Einreise. Damit wäre die Geschichte möglicherweise schon zu Ende gewesen, hätte der antifaschistische Delegierte aus Europa nicht Egon Erwin Kisch geheißen. Kisch schmuggelte seine Rede für den Melbourner Kongress von Bord des Schiffes und seine australischen Gastgeber inszenierten damit eine breit angelegte Kampagne unter dem Motto »Kisch must land!« – »Kisch muss landen!«, »Kisch must speak!« – »Kisch muss reden!«.
Einer, die sich für Kisch einsetzte, war John Fisher, damals Journalist beim Melbourne Herald. Sein Sohn erinnert sich: »Mein Vater war damals gerade 24 Jahre alt, politisch sehr interessiert und hatte Kontakt zur ›Bewegung gegen Krieg und Faschismus‹. Er besuchte Kisch im Hafen von Melbourne auch an Bord des Schiffes, auf dem er festgehalten wurde.« So wurde John Fisher Augenzeuge von Kischs spektakulärer Landung in Australien: »Mein Vater war am Pier, als die Vertäuung gelöst wurde und das Schiff ablegte. Wie viele andere winkte er den Passagieren an Deck zum Abschied zu, als Kisch, der nicht nur ein Mann der Feder, sondern auch der Aktion war, über die Reling kletterte und auf den Kai hinunter sprang, eine wahrlich couragierte Handlung für einen Mann von 45 Jahren. Leider landete Kisch unsanft auf dem Schienenstrang und brach sich ein Bein, weshalb er später auch seinem Buch über diese Erlebnisse den doppeldeutigen Titel Landung in Australien geben sollte.«
Obwohl Kisch schwer verletzt war, schleppten ihn australische Polizisten zurück an Bord des Schiffes, das in Richtung Sydney weiterfuhr. Doch durch seinen spektakulären Sprung, über den alle australischen Zeitungen berichteten, hatte sich Kisch im sportbegeisterten Australien große Sympathien erworben. Wenig später demonstrierten schon Zehntausende für seine Einreise und sein Rederecht. Sherley Andrews, die heute als Rentnerin in Melbourne lebt und damals an der dortigen Universität studierte, erinnert sich: »Freunde nahmen mich mit zu einer Großdemonstration zur Unterstützung von Kisch im Zentrum der Stadt. Es war Abend, und wir alle trugen brennende Fackeln. Kischs mutiger Sprung von Bord hatte ihm große Anerkennung eingebracht, und weil in Australien so wenig über das bekannt war, was in Europa geschah, wollten viele die Gelegenheit nutzen, von Kisch Informationen aus erster Hand zu erhalten. In der australischen Öffentlichkeit war Hitler bis dahin als Witzfigur angesehen worden, die nicht ernst zu nehmen sei, was natürlich nicht stimmte. Nur in den Studentenzeitungen fanden sich seriöse Berichte von Kommilitonen aus Europa über den Faschismus und auch über den Fall Kisch.«
Kischs Schiff lief eine Woche später im Hafen von Sydney ein, wo es den Anwälten der antifaschistischen Bewegung endlich gelang, die Einweisung des verletzten Autors in ein städtisches Krankenhaus durchzusetzen. Um jedoch offiziell einreisen zu können, musste Kisch – wie damals alle Neuankömmlinge in Australien – einen Sprachtest absolvieren. Nun beherrschte der kosmopolitische Autor sieben Sprachen fließend, darunter auch Englisch. Das war auch der australischen Einwanderungsbehörde bekannt. Deshalb setzten sie Kisch ein Diktat in schottischem Gälisch vor. Doch damit schoss die australische Regierung schon ihr zweites Eigentor im Fall Kisch, denn dessen Anwälte stritten bis zum obersten Gerichtshof Australiens erfolgreich gegen diese Farce, und Kisch nutzte das Verfahren, um die rassistische australische Einwanderungspolitik jener Zeit anzuprangern. Noch heute gehört Kischs Prozess zum Vorlesungsstoff von JurastudentInnen in Australien. Damals machte er den antifaschistischen Autor aus Europa landesweit bekannt. Entsprechend groß war der Andrang, als Kisch danach den fünften Kontinent bereiste, um – immer noch auf Krücken gestützt und humpelnd – auf antifaschistischen Veranstaltungen zu reden. Eine der größten – mit zehntausend ZuhörerInnen – fand im Stadion von West-Melbourne statt. Len Fox, heute 96 Jahre alt, erinnert sich noch gut an diese Veranstaltung: »Wie populär Kisch inzwischen war, erwies sich, als er auf die Bühne trat und sagte: ›Mein Englisch ist gebrochen, mein Bein ist gebrochen, nur mein Herz ist nicht gebrochen.‹ Der Beifallssturm danach war unbeschreiblich.«
Kisch hinterließ nicht nur einen großen Eindruck in der australischen Öffentlichkeit, sondern auch bei seinen australischen Unterstützern, wie Len Fox erzählt: »Kisch hat mein Leben verändert. Ohne ihn wäre ich wahrscheinlich Lehrer geworden und als altes Schulmeisterlein geendet. So jedoch wurde ich zunächst Sekretär der ›Bewegung gegen Krieg und Faschismus‹ im Bundesstaat Victoria, arbeitete dann in der Solidaritätsbewegung für die Republikaner im spanischen Bürgerkrieg und engagierte mich später in Solidaritätsbewegungen wie denen gegen den Vietnamkrieg und für Ost-Timor.«
Nachdem Kisch den fünften Kontinent von Queensland im hohen Norden bis Adelaide im Süden und Perth im Westen bereist hatte, willigte die australische Regierung, um ihn endlich loszuwerden, schließlich ein, alle Gerichtsverfahren gegen ihn einzustellen und die angefallenen Prozesskosten zu übernehmen.
Am 11. März 1935 trat Kisch, nach fünf überaus erfolgreichen Monaten als antifaschistischer Redner in Australien, die Rückreise nach Europa an. Zu seinen Begleitern gehörte der australische Journalist John Fisher, der Kisch in den spanischen Bürgerkrieg folgen sollte. An Bord des Schiffs lieferte er Kisch wertvolle Hintergrundinformationen über die Geschichte und Politik des fünften Kontinents für dessen Buch Landung in Australien. Fisher übersetzte es später auch ins Englische.
Trotzdem geriet der Fall Kisch in Australien zunächst in Vergessenheit. Denn bald darauf zogen auch australische Soldaten an der Seite der Alliierten in den Krieg gegen das faschistische Deutschland und Japan, und die australische Regierung mochte in dieser Situation nicht mehr daran erinnert werden, wie sie noch kurz zuvor mit dem Antifaschisten Kisch umgesprungen war.
Nach dem Krieg übernahm mit Robert Menzies der Mann für lange Jahre das Amt des Premierministers in Australien, der in den dreißiger Jahren Generalstaatsanwalt und damit Kischs prominentester Gegenspieler in der Regierung gewesen war. Menzies amtierte von 1949 bis 1966 und schickte 1965 auch australische Truppen an der Seite der USA in den Vietnamkrieg. Die Protestbewegung, die dagegen demonstrierte und die auch in Australien weitgehend aus Studenten bestand, beschäftigte sich mit dem Werdegang von Premierminister Menzies und stieß dabei auch auf seine Rolle im Fall Kisch. So wurde denn auch Kischs Buch Landung in Australien 1968 von einem Verlag in Sydney neu aufgelegt.
John Fisher, Sohn des Übersetzers, erklärt, warum sich australische Studenten in den sechziger Jahren erneut für die Kisch-Affäre interessierten: »Sein Besuch in Australien machte uns deutlich, dass es Leute gegeben hatte, die schon frühzeitig vor der Gefahr des Nazismus gewarnt hatten, als in der westlichen Welt noch viele in den Regierungsetagen mit Hitler sympathisierten, weil er gegen Kommunisten und Gewerkschaften vorging und scheinbar Ordnung schaffte in Deutschland. Und zu den Sympathisanten der europäischen Faschisten hatte hier in Australien auch Robert Menzies gehört.«
Tatsächlich hat sich Robert Menzies noch 1938 vor einem Europabesuch ausdrücklich um ein Treffen mit Mussolini bemüht. Und nach seinem Besuch im faschistischen Deutschland habe er, so John Fisher, im australischen Radio erklärt: Wären seine Zuhörer »Herr und Frau jedermann in Deutschland«, wären sie wahrscheinlich auch davon überzeugt, »dass Hitler seine Sache gut machte«. »Viele Australier wissen nicht mehr, dass Menzies noch zu diesem späten Zeitpunkt ein solch positives Bild von Hitler-Deutschland verbreitete«, sagt John Fisher. »Und die meisten wären wahrscheinlich schockiert, wenn sie davon erführen. Aber dieses Kapitel unserer Geschichte wurde nach dem Krieg gegen Deutschland umgeschrieben.«
Robert Menzies starb 1978. Bis dahin war seine fragwürdige Haltung zu den faschistischen Regimes in Europa in der australischen Öffentlichkeit längst wieder vergessen. Erst in den achtziger Jahren sollte sie erneut diskutiert werden. Ausgangspunkt dafür war wieder der Fall Kisch. 1984/85 drehten Studenten der Filmhochschule in Sydney einen Dokumentarfilm über Kisch, und auf Australiens Bühnen erlebten damals gleich zwei Theaterstücke zum Thema Kisch ihre Uraufführungen.
Einer der Theater-Autoren war Ken Horler, der vor dem Verfassen seines Stücks »viel Zeit damit verbracht hat, die Presse aus jener Zeit nachzulesen. Tatsächlich findet sich darin so gut wie keine Kritik an den Zuständen in Nazi-Deutschland.« Horler stellte für sein Stück umfangreiche historische Recherchen an, auch über den Einfluss des Nazibotschafters im Australien der dreißiger Jahre, Dr. Rudolf Asmis. Horler zweifelt nicht daran, dass der Nazi-Vertreter in engem Kontakt zur australischen Regierung stand. »Aber obwohl alle Regierungsdokumente in Australien eigentlich nach 30 Jahren der Öffentlichkeit zugänglich sein sollen, werden ausgerechnet die Akten aus jener Zeit bis heute im Nationalarchiv unter Verschluss gehalten.«
Das Nationalarchiv Australiens befindet sich im weitläufigen Regierungsviertel der australischen Hauptstadt Canberra. Von der Eingangshalle führt der Weg zur Ausleihe vorbei an einem repräsentativen Saal, der nach Robert Menzies benannt ist.
Unter dem Stichwort »Kisch« finden sich im Lesesaal mehrere Aktenordner mit Zeitungsausschnitten aus den Jahren 1934 und 1935, Dokumenten aus dem Innen- und Außenministerium, Protokollen der politischen Polizei und Berichten des australischen Geheimdienstes. Daraus geht hervor, dass staatliche Spitzel Kisch damals auf Schritt und Tritt verfolgten und jeden seiner öffentlichen Auftritte protokollierten.
Zum Beispiel den in der »Domain«, einem Stadtpark in Sydney: »Die Zahl der Anwesenden war außergewöhnlich hoch für einen Sonntagnachmittag in der Domain und betrug etwa 10.000. Am auffallendsten war der überaus hohe Anteil von Mitgliedern der jüdischen Rasse.«
Über einen anderen Auftritt Kischs bei einer Anti-Kriegs-Veranstaltung vermerkten die Staatsschützer: »Kischs Rede war hauptsächlich Anti-Hitler. Die beobachtenden Beamten kamen zu dem Schluss, dass er vor allem jüdische Interessen vertritt.«
So viel Aufschluss diese Dokumente auch über die antisemitischen Ressentiments australischer Regierungsbehörden jener Zeit liefern, ursprünglich müssen die Kisch-Akten noch weitaus brisanteres Material enthalten haben. Denn auch fast sieben Jahrzehnte nach Kischs »Landung in Australien« fehlen in den Kisch-Ordnern weiterhin zahlreiche Dokumente. Die an ihrer Stelle eingehefteten Formblätter verweisen darauf, wer wann welche Akten unter Verschluss genommen hat.
Beispiel: »Entfernt wurden: die Aktenblätter mit den Nummern 4, 27, 29 und 50. Inhalt der Dokumente: Telegramme vom 11. Oktober, 9., 10. und 20. November 1934. Grund der Entfernung: Antrag der Australian Security Intelligence Organisation nach Paragraph 33, 1, a und b, des Archiv-Gesetzes. Entfernt von: June Edwards. Datum: 4. August 1986.«
Auf Nachfrage erhalten Nutzer des Nationalarchivs einen Vordruck, in dem erklärt ist, was es mit dem Paragraphen 33.1.a/b des australischen Archiv-Gesetzes auf sich hat: »Die meisten Regierungsunterlagen, die mehr als 30 Jahre alt sind, sind öffentlich zugänglich. Nur weniger als ein Prozent der Akten bleibt grundsätzlich unter Verschluss. Wenn wir die Einsicht in Akten, die mehr als 30 Jahre alt sind, verweigern, dann deshalb, weil sie Informationen enthalten, deren Veröffentlichung – nach Paragraph 33.1.a – der Sicherheit, Verteidigung oder den internationalen Beziehungen Australiens schaden könnte oder – nach Paragraph 33.1.b – einen Vertrauensbruch gegenüber den ausländischen Regierungen darstellen würde, von denen diese Informationen stammen.«
Bleibt die Frage: Welche Informationen in den Kisch-Akten sind so brisant, dass sie noch immer »der Sicherheit, Verteidigung und den internationalen Beziehungen Australiens schaden könnten«? Und von welchen ausländischen Regierungen sind diese Informationen damals geliefert worden?
Einer zumindest hat eine klare, wenn auch äußerst umstrittene Antwort auf diese Fragen gegeben: der Anwalt und Schriftsteller Nicholas Hasluck aus Westaustralien. Hasluck verarbeitete seine Schlussfolgerungen sogar zu einem Roman über Kisch. Sein Buch erschien 1999 unter dem Titel Our Man K., eine kitschige Politschnulze im Stile Konsaliks, die eine australische Variante des Historikerstreits auslöste. Denn Hasluck, selbst Sohn eines Außenministers unter Menzies, rechtfertigt darin das skandalöse Vorgehen der australischen Regierung gegen Kisch damit, »dass Kisch Verbindungen zur Komintern und zu stalinistischen Kräften unterhielt. Die Regierung musste deshalb annehmen, dass er nach Australien kam, um im Sinne der Komintern politischen Aufruhr anzuzetteln. Sie hatte also gute Gründe, anzunehmen, dass Kisch zum Problem für sie hätte werden können.«
Auch Hasluck fiel bei seinen Recherchen im Nationalarchiv in Canberra auf, dass dort immer noch Teile der Kisch-Akten vom australischen Geheimdienst unter Verschluss gehalten werden. Er zog daraus den Schluss, dass es sich dabei um die Korrespondenz zwischen der australischen und britischen Regierung handeln müsse, die Belege für Kischs Agenten-Tätigkeit enthalte.
Ken Horler, der für sein Theaterstück über Kisch die gleichen Quellen studiert hat, hält Haslucks Schlussfolgerung für absurd: »Alles an Kischs extravagantem theatralischem Auftreten in Australien spricht gegen die These, dass er irgendjemandem als Agent gedient haben könnte. Dafür war sein Ego zu groß und sein Misstrauen gegenüber Politikern zu gesund. Spione pflegen im übrigen nicht vom Schiff zu springen und sich ein Bein zu brechen.«
Marian Dzurik, Kurator einer Ausstellung zeitgenössischer tschechischer Kunst in Sydney, in die er auch Bücher und Collagen von Kisch aufnahm, hat eine ganz andere Vermutung, warum die geheimgehaltenen Kisch-Akten bis heute unter Verschluss sind: »Es könnte sich um die Korrespondenz der deutschen Botschaft und von Agenten des Dritten Reiches mit dem australischen Geheimdienst handeln. Immerhin gab es damals auch den Versuch, Kisch direkt an Deutschland auszuliefern. Schließlich sympathisierte die australische Regierung noch bis zum Kriegsbeginn mit Nazi-Deutschland. Allerdings passt das nicht zur konservativen Neuschreibung der Geschichte, wie sie derzeit von unserem Premierminister John Howard betrieben wird.«
Nicholas Hasluck behauptet, er habe bei seinen Recherchen »kein Material gefunden, das den Schluss zuließe, Menzies habe dem, was in Deutschland geschah, wohlwollend gegenübergestanden.«
Tatsächlich finden sich im australischen Nationalarchiv in Canberra zahlreiche Belege dafür, dass nicht nur Menzies, sondern die gesamte australische Regierung damals zu Hitler-Deutschland überaus freundschaftliche Beziehungen unterhielt und selbst deutsche Nazi-Propagandisten in Australien unbehelligt gewähren ließ.
So konnte 1934, als Kisch die Einreise verboten wurde, der deutsche Generalkonsul Dr. Rudolf Asmis in Australien Nazi-Propagandafilme wie »Deutschland Erwache« öffentlich vorführen und den »Nationalen Tag der Arbeit« und »Führers Geburtstag« im »Deutschen Klub Concordia« feiern. Asmis förderte NSDAP-Gruppen unter den deutschen Einwanderern in Australien und verbreitete seine faschistische Propaganda bei ausführlichen Reisen durch das Land, die »mit freundlicher Unterstützung« des australischen Außenministeriums stattfanden.
Wie fasziniert Nachkriegspremier Robert Menzies in den dreißiger Jahren von den faschistischen Regimes in Europa war, ist selbst in der zweibändigen Biographie nachzulesen, die in jedem australischen Buchladen erhältlich ist. Darin findet sich zum Beispiel das Zitat Menzies von 1934: »Unter einem großen Diktator wie Mussolini mag man einen Grad von Effektivität und Kontrolle erreichen, den ein Parlament nicht herzustellen vermag.«
Zu dem erwünschten Treffen mit dem laut Menzies »genialen« Mussolini sollte es 1938 – zum beiderseitigen Bedauern – nicht kommen. Mussolini war »leider« anderweitig beschäftigt, als Menzies nach Europa reiste. Dafür traf Menzies im Sommer 1938 in Deutschland den Reichswirtschaftsminister, Dr. Hjalmar Schacht, ließ sich deutsche Autobahnen zeigen und das neugebaute Stadion für die Nazi-Olympiade in Berlin. Offensichtlich beeindruckt von seinem Deutschlandbesuch, erklärte Menzies: »Hitler ist kein Administrator, wie Mussolini einer ist. Er ist ein Träumer, ein Mann der Ideen, von denen viele gute sind. Es liegt eine ganze Menge wirklicher spiritueller Qualität im Willen der jungen Deutschen, sich dem Dienste und dem Wohle des Staates zu verschreiben.«
Im australischen Nationalarchiv werden auch die persönlichen Aufzeichnungen von Robert Menzies aufbewahrt. Fast alle sind der Öffentlichkeit zugänglich, nur nicht die von 1938 über seinen Besuch bei den italienischen und deutschen Faschisten. Auf Anfrage ist zu erfahren, dass es der spätere australische Premierminister Menzies selbst war, der vor seinem Tod angeordnet habe, diese Dokumente unter Verschluss zu halten. Er wusste wohl warum. Schließlich geriet unlängst ein Brief vom 11. September 1939 an die Öffentlichkeit, in dem Menzies wenige Tage nach dem Überfall auf Polen um Verständnis für die Deutschen warb. Darin heißt es: »Es steht uns nicht zu, darüber zu befinden, welche Form von Regierung die Deutschen haben sollten«, zumal »niemand irgendetwas auf Polen gebe«.(»Nobody gives a damn about Poland.«) Menzies plädierte damals für eine Übereinkunft mit Hitler-Deutschland bei der »Neu-Gestaltung der gesamten Karte Europas«.
So skandalös diese Formulierungen damals waren, so peinlich müssen sie der heutigen politische Elite des Landes sein. Immerhin hat Australiens amtierender Premierminister, John Howard, Robert Menzies stets als sein großes Vorbild bezeichnet. Howards Verehrung ging so weit, dass er sogar seinen Amtssitz im Stil der Menzies-Ära einrichten ließ. Möglich, dass auch darin bald wieder der Geist des rasenden Reporters Egon Erwin Kisch herumspukt.
Der tschechische Einwanderer, Kurator und Künstler Marian Dzurik bemüht sich seit einigen Jahren darum, dass dem »Rasenden Reporter« auf dem fünften Kontinent ein Denkmal gesetzt wird. Seine Begründung für diese Initiative: »Die Auseinandersetzung mit Kisch ist bis heute bedeutsam, schon um auf die scheinheiligen Methoden hinzuweisen, von Sprachtests bis zu Einwanderungsgesetzen, mit denen vielen Migranten lange Zeit die Einreise nach Australien verwehrt wurde. Diese Art von Politik wurde in den letzten 60 Jahre immer wieder neu aufgelegt.« Wann immer es die wirtschaftliche oder politische Situation Australiens erfordert habe, so Marian Dzurik, habe die australische Einwanderungspolitik diskriminierende Formen angenommen: »Gut ausgebildete und reiche Migranten erhalten immer den Vorzug vor armen, die wirklich auf der Flucht sind, ob sie nun aus Afghanistan, dem Iran, Sri Lanka oder Afrika kommen.«
Dzurik hat auch einen konkreten Vorschlag, wo ein Plakette, die an Kisch erinnert, angebracht werden soll: an der Trades Hall, dem altehrwürdigen Gewerkschaftshaus von Sydney. »Denn in diesem Gebäude hat Kisch eine Rede gehalten.« Bei einem Treffen an der »Trades Hall« stellt sich heraus, dass die Wand neben der Eingangstür mit frischen Graffitis beschmiert ist – mit Hakenkreuzen. Daneben steht der Spruch »Juden-Scheiße!«. Marion Dzuriks Kommentar dazu: »Kisch hätte diese Schmierereien sicher sofort verstanden, in welcher Sprache auch immer sie geschrieben sind. Das ist ja wohl ein historisches Déjà-vu. So wie das Déjà-vu, das uns Nicholas Hasluck mit seiner konservativen Rekonstruktion der Geschichte beschert hat.«
(Printfassung eines Hörfunkfeatures, das im September 2000 im SWR und im Frühjahr 2001 im Deutschlandfunk gesendet wurde.)

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Kanthers Vollstrecker
Befindlichkeiten in deutschen Asylbehörden – Der Fall Sis
Von Albrecht Kieser

Franz-Josef Schumacher ist eine Art Abteilungsleiter in der Justizvollzugsanstalt Büren, vulgo: Abschiebeknast. Sechs Meter hohe Mauern ragen kurz vor Paderborn mitten in einen nordrhein-westfälischen Wald. Abdulhalim Sis – von ihm wird später noch die Rede sein – hat hier nicht gesessen, er war in ein Berliner Gefängnis weggeschlossen. Franz-Josef Schuhmacher hat trotzdem ein schlechtes Gewissen, und er macht sich Gedanken, ob das alles so richtig sei. »Ich für meinen Teil, ich find' es persönlich nicht unbedingt richtig, dass man Menschen, junge Menschen, einsperrt bis zu 18 Monaten. Das denk' ich, kann nicht richtig sein. Da ist vielleicht auch unser Recht nicht der Weisheit letzter Schluss.« Franz-Josef Schumacher ist kein besserer oder schlechterer Mensch als andere in seinem Geschäft. Er arbeitet, wie es sich gehört, sieht also zu, dass niemand ausbricht von den Gefangenen, keiner sich aufhängt und noch Zeit bleibt, um nachzudenken.
So wie sein Kollege, der Wachmann Ralph Kramer, der ähnliche Gedanken als Angestellter des im Bürener Gefängnis tätigen privaten Unternehmens Kötter-Security formuliert: »Wenn es dann der Tag der Abschiebung ist, muss man sich irgendwie ... die Gefühle müssen dann irgendwie begrenzt werden. Er ist da, er ist zur Abschiebung quasi freigegeben. Das Gesetz hat gesagt, er muss nach Hause dann und dann. Und dann muss man sich doch leicht ein bisschen abkapseln. Sonst nimmt man alles mit nach Hause, jedes einzelne Schicksal. Und das kann nicht sein. Dann macht man sich hier kaputt.«
Die Bediensteten sprechen in ein Mikrofon, zwischen Bekenntnis und Beichte quält sich schlechtes Gewissen durch die Antworten auf des Journalisten Fragen. Acht Wachbeamte stehen Rede und Antwort, allein mochte niemand sprechen. Wenn der Blick aus dem übervollen Wachzimmer hinausgeht auf den Hof, erkennt man einige der Gefangenen beim Fußballspielen. Nebenan in einer Zelle singt ein Häftling mit melancholischer Stimme eine ferne Melodie. Alltag hinter den Mauern, Warten bis zum Tag X, bis zur gewaltsamen Entfernung vom deutschen Staatsgebiet. Aber trotz alledem: Der Staat hat Recht. Konkret heißt das in Büren und anderswo: Recht, bis zu 18 Monate Menschen zu inhaftieren, die sich keinerlei Verbrechens schuldig gemacht haben, sondern nur nicht über die zur Abschiebung benötigten Ausweisdokumente verfügen oder sich der Abschiebung – wie es heißt – entziehen wollten.
Tomas Bongartz, Chef der staatlichen Wachmannschaft, vollbringt in unserem Gespräch über die Gegensätze zwischen den Rechtsvorgaben und der Gewissenslage der Bediensteten die Quadratur des Kreises: »Das mag menschenrechtlich nicht in Ordnung sein, aber rechtlich gesehen ist das hier in der Bundesrepublik geregelt. Und nur aufgrund eines Gesetzes sind diese Leute hier.«
Abdulhalim Sis musste zwei Mal sitzen für Deutschland, für Deutschlands Schutz vor zu vielen, vor nicht genehmen, vor störenden Flüchtlingen. Im vergangenen Jahr waren etwa 20.000 Menschen in Abschiebehaftanstalten oder besonderen Trakten normaler Gefängnisse inhaftiert. Die durchschnittliche Haftdauer beträgt fünf bis sechs Wochen; Spitzenzeiten von mehr als vier Monaten sind trotzdem keine Seltenheit. Die Haftbedingungen sind unterschiedlich geregelt. Zum großen Teil liegen sie unter dem Standard von Strafhäftlingen, insbesondere was Umschluss und Arbeitsmöglichkeiten sowie Taschengeld betrifft.
In Berlin zum Beispiel, wo Abdulhalim Sis während seiner zweiten Inhaftierung als Asylbewerber einsaß, mussten die Häftlinge von ihren 80 Mark monatlichem Taschengeld noch für jede Tasse heißen Wassers zahlen, in die sie die natürlich auch gekauften Teebeutel hingen. Bis ein Streik diese Praxis beendete. Solche Pfennigfuchserei mag, um mit Tomas Bogartz aus Büren zu sprechen, menschenrechtlich nicht in Ordnung gewesen sein. Aber ein Gesetz, zumindest eine Verwaltungsanordnung, gab es sicherlich auch dafür.
Der Verweis auf Vorschriften entlastet das Gewissen. Ein Kollege von Tomas Bongartz, Werner Novak, auch er bei der staatlichen Wachmannschaft im Abschiebeknast Büren beschäftigt, bringt es in unserem Gespräch auf den Punkt, als er erregt darauf verweist, »noch« (warum noch?) befänden wir uns in einer Demokratie! Und als Demokrat stehe er hinter dem Ausländergesetz, weil es ja mehrheitlich von allen Parteien beschlossen worden sei.
Üb' immer Treu und Redlichkeit. Oder: Wer nur gesetzliche Anordnungen ausführt, den trifft keine Schuld. Der ist geschützt vor jedem stillen oder lauten Vorwurf, jedem fremden oder eigenen Zweifel. Oder doch nicht ganz? Ursula Langen, Leiterin der Ausländerbehörde Köln, die ich um ein Interview mit ihren Außendienstmitarbeitern über dieselbe Problematik – Gewissen und Gesetzestreue – bat, schlug diese Bitte ab. Sie steht auf dem Standpunkt, dass der einzelne Mitarbeiter seine Arbeit tun solle, ohne in die öffentliche Diskussion zu geraten. Ohnehin seien ihre Mitarbeiter zu solchen Interviews gar nicht bereit. Sie wollten nämlich nicht diejenigen sein, auf die »öffentlich mit Fingern gezeigt« werde. Sie wollten nicht aus der Anonymität herausgeholt werden. Sie wollten nicht am Pranger stehen als »diejenigen, die diese Entscheidungen immer treffen, von denen wir in der Zeitung lesen oder im Radio hören. Sie möchten einfach ihre Persönlichkeit, zumindest öffentlich, aus dieser Sache raushalten.«
So viel Angst vor dem Publikum, das doch in seiner großen Mehrheit »diese Sache« der Asylpraktiker stützt, verweist auf eigene Probleme. Gewissensprobleme der etwa 10.000 Beschäftigten in deutschen Asylbehörden: Gefängnis, Grenzschutz, Ausländer-, Wohnungs- oder Sozialamt, Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge und Verwaltungsgericht. Immerhin gehört zu ihrem Alltag, Asylbewerbern nicht mehr als fünf Quadratmeter Wohnfläche zuzuweisen, sie nur im unabweisbaren Notfall zum Arzt zu lassen, sie zu bestrafen, wenn sie den zugewiesenen Ausländeramtsbezirk verlassen, 93 Prozent von ihnen die Anerkennung als Asylberechtigte zu verweigern – trotz Folterspuren am Leib, Hungersnöten und Bürgerkriegen in der Heimat –, sie einzusperren, sie zu Zehntausenden jährlich abzuschieben in Elend und Verfolgung. Seit einiger Zeit werden Psychologen und Seelsorger von Amts wegen angefragt, um die Gewissensnöte von Beschäftigten zu bearbeiten. Innere und ausgesprochene Kündigungen gerade in Wohnungs- und Sozialämtern, Versetzungsgesuche, Hilfen im Einzelfall unterhalb und außerhalb der gesetzlich vorgeschriebenen Unerbittlichkeit bringen den Apparat – zwar nicht zum Wanken, aber ins Knirschen. Daher der Hinweis von Ursula Langen auf die Scheu ihrer Bediensteten, an die Öffentlichkeit zu treten.
Kürzlich wurden die Abschiebe-Exekuteure der örtlichen Ausländerbehörden per Gerichtsbeschluss ein gutes Stück vor der zumindest potenziell kritischen Öffentlichkeit entlastet. Das Bundesverwaltungsgericht hat ihnen vor wenigen Wochen eine Kompetenz entzogen, an der viele Mitarbeiter sehr zu knacken hatten. Sie sollen nicht mehr selbstständig über Abschiebehindernisse entscheiden. Das übernimmt jetzt das »Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge«, eine bundesunmittelbare Behörde mit nur 40 über das ganze Land verstreuten Außenstellen und einer damit wesentlich geringeren »Basisnähe«. Der moralische Druck von Teilen der Öffentlichkeit jedenfalls erreicht die Zuständigen des Bundesamtes schwerer als die Ausländerbehörden vor Ort.
Gerhard Brand in der Ausländerbehörde Bad Hersfeld, zuständig für Abschiebungen, könnte das vor einigen Alpträumen bewahren. Als wir uns in seinem grauen Büro über seine graue Tätigkeit unterhalten, gesteht er, er wolle sich in die Lage der Betroffenen, die abgeschoben werben, »nicht allzu oft hineinversetzen. Weil man sich dann irgendwo selbst fertig macht. Das kann nicht sein. Man ist ja auch nur Mensch und muss mit diesen Dingen fertig werden.«
Gerhard Brand hat Abdulhalim Sis abgeschoben. Im vergangenen Jahr, im Februar. Seine hochschwangere Frau blieb mit den drei Kindern hier. Ihr Asylfolgeantrag lief noch. Nur eine von 38.000 Abschiebungen, die in jenem Jahr abgewickelt wurden. Nur eins der Menschenschicksale, die sich meist im Dunkel der Fluchtländer verlieren.
Verwaltungsrichter Günter Schnell aus Kassel hatte Gerhard Brand in Gang gesetzt, als er über den Fall Sis in einem unanfechtbaren Beschluss geurteilt hatte: »Ob man in der Heimatregion nach dem Antragsteller sucht, ist unerheblich, denn der Antragsteller kann sich diesen drohenden Verfolgungen durch Wohnsitznahme in der Westtürkei entziehen« (GeschZ: 4G3679/96).
Wo sich die Spur von Abdulhalim Sis dann glücklicherweise nicht verlor. Nach fünf Monaten Haft und Folter in türkischen Gefängnissen kam er frei. Und floh erneut nach Deutschland. Eigene Mittel hatte er nicht mehr, seine 200 Schafe hatte er schon zur Finanzierung seiner ersten Flucht verkauft. Verwandte halfen dem untersetzten, kräftigen Mann, den die Folter allerdings völlig abgezehrt hatte. Sie halfen mit Geld und mit Kontakten. Er vertraute sein Schicksal Allah und den Fluchthelfern an und gelangte erneut in einem freien Land an. Mit falschen Papieren, in einem LKW, nach einer abenteuerlichen Fahrt.
Dass Abdulhalim Sis nach seiner ersten Flucht keine Gnade fand in Deutschland und wohl auch keine Gerechtigkeit, höchstens Recht, unterscheidet ihn nicht von den anderen, die hier Asyl suchen. 93 Prozent der Asylbewerber erhalten vom Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge keinen Schutz. Die Anerkennungsquote von Verfolgten aus international geächteten Folterregimes wie z.B. Nigeria, einem bedeutenden Erdöllieferanten, liegt unter zwei Prozent, im Falle der Türkei, die ebenfalls der dauernden Anwendung der Folter von UNO und EU angeklagt wird, liegt sie bei elf Prozent. Das Zentrum für Folteropfer in Berlin hat in einer Untersuchung festgestellt, dass das Bundesamt von 40 seiner Patienten, die gefoltert wurden, 30 das Asyl verweigert hat. In 25 Fällen interessierten sich die Einzelentscheider des Bundesamtes nicht einmal für die von den Flüchtlingen berichteten Übergriffe.
Abdulhalim Sis wäre von der deutschen Asylmaschinerie fast vernichtet worden. Oder um es weniger polemisch zu fassen, so, wie der Leiter des Behandlungszentrums für Folteropfer, Dr. Sepp Graessner es formulierte: »Insgesamt lässt sich festhalten, dass Herr Sis mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit Opfer von Folter nach seiner Abschiebung in die Türkei wurde. Man wird sich der Bewertung nicht entziehen können, dass seiner Folterung in der Türkei eine fahrlässige Beihilfe vorausging.«
Als ich Verwaltungsrichter Günter Schnell, der mit seinem Urteil für die Abschiebung des Flüchtlings gesorgt hat, in seiner Amtsstube aufsuchte und ihn mit dem Schicksal des Abgeschobenen konfrontierte, geriet der Redefluss des gewandten Juristen für Sekunden ins Stocken. Um danach fortzufahren. Seine Prognoseentscheidung, ließ er wissen, die damals richtig gewesen sei, habe eben nicht alle Tatsachen berücksichtigen können – nämlich die Tatsachen nicht, die letztlich zu Verhaftung und Folter geführt hätten; diese Tatsachen seien ihm nicht bekannt gewesen. Nein, das sei alles nach bestem Wissen und Gewissen geschehen. Nein, ein schlechtes Gewissen habe er nicht.
Für die zahlreichen Unterstützer aus Gewerkschaften, Kirchen und Flüchtlingsgruppen, die die Abschiebung von Abdulhalim Sis 1996 verhindern wollten, standen allerdings die »Prognosen« für den Abgeschobenen von Anfang an mehr als schlecht. Auch der Schnell-Verweis auf die »inländische Fluchtalternative« Westtürkei hatte bei ihnen nicht den Rang einer »Tatsache«.
Aber der Richter kann sich da auf höhere Mächte berufen: Im Asylapparat greift ein Rädchen ins andere. Und in aller diplomatischen Bescheidenheit ist das, das ganz oben sich dreht, ja, das von dort mit antreibt, nahezu unsichtbar: das Auswärtige Amt, das in seinen so genannten Lageberichten (nicht öffentlich, nur für den Dienstgebrauch) die Erfindung der »inländischen Fluchtalternative« zur asylrechtlichen Staatsdoktrin erhoben hat. Wie viel diplomatische Zurückhaltung gegenüber dem befreundeten NATO-Mitglied Türkei in dieser Behauptung steckt, zeigen nicht nur der Fall Sis, sondern auch die Berichte von amnesty international und anderer unabhängiger Organisationen. Sie bestätigen anhand Dutzender »Fälle« das hohe Maß an Gefährdung insbesondere für kurdische Flüchtlinge auch in der Westtürkei.
Auch Ausländeramtsmitarbeiter Brand muss nun als unmittelbar Verantwortlicher für die Abschiebung des Abdulhalim Sis in die türkische Folter mit den Folgen seines behördlichen Tuns fertig werden. Für ihn ist das eingetreten, was manche Beschäftigte im Asylapparat nachts schlecht schlafen lässt: dass sie persönlich Folter und Mord von Menschen ermöglichen, weil sie ihnen den Schutz als Asylbewerber verweigerten.
Während sich Richter Schnell mit dem Hinweis auf angeblich ihm nicht vorliegende Tatsachen rettet, erschüttert die Konfrontation mit dem »Fall« Sis Gerhard Brands Glauben in den exkulpierenden Pragmatismus: »Das würde mir doch sehr zu denken geben, dass ich da mitverantwortlich war.« Und nach einigem Zögern fährt er fort, von möglichen Konsequenzen für sich in dritter Person grübelnd. »Man müsste sich dann schon Gedanken machen, was man zukünftig macht. Ob man weiterhin diese Tätigkeit verantworten kann. Na ja, man ist immer so – wie soll man das sagen – so ein Zahnrad in der großen Maschine. Und da gehör ich nun mal dazu. Wenn sich das jetzt bei dem Herrn Sis als wahr herausstellt, dann muss man sich schon Gedanken machen: Bleibt man wirklich da so ganz unbeeindruckt sitzen in seinem Büro und trifft die nächste Entscheidung genau so wieder oder macht man einen Rückzieher?« Schießt ihm in der langen Pause seines Monologs der Gedanke durch den Kopf, ob er den Job hinschmeißen soll? Er spricht weiter, nach einem Ausweg suchend: »Oder geht man einen ganz anderen Weg und trägt diese Angelegenheit ans Ministerium?« Und mit diesem Gedanken ist Gerhard Brand wieder beim »Ich« angelangt: »Ich würde sagen: So und so ist das gelaufen, das und das ist passiert. Sollen wir jetzt das weiterhin einfach so handhaben und die Leute dahin zurückschicken? Oder was soll man machen?« Der Beamte spricht bedächtig, mehr zu sich. Hält noch einmal inne, schaut mich dann an und zuckt entschuldigend die Schultern: »Gut, da hab ich die Entscheidung nur auf jemand anderen übertragen. Aber zumindest muss mir dann gesagt werden, was ich weiter machen soll.«
Abdulhalim Sis ist nach Intervention von Anwälten und des Behandlungszentrums für Folteropfer aus dem Berliner Abschiebegefängnis freigelassen worden. Nun wartet er zum zweiten Mal mit seiner Frau und seinen Kindern auf einen Entscheid des Bundesamtes für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge.
(Printfassung eines Rundfunkfeatures, veröffentlicht in: Freitag, Nr. 24, 1998)

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Pepito Bosch
Der Tod einer philippinischen Kultfigur
Von Karl Rössel

»Er war Guru für Generationen. Er war Verfemter, Heiliger, Genie, Schauspieler, Komiker, Conga-Trommler, Liebhaber, Freund, Gönner, Onkel, älterer Bruder, Antreiber, Lehrer, Messias, Kult-Figur, Meister des Gesangs und Geheuls und Trinkkumpan ohnegleichen.«
So beschreibt der philippinische Schriftsteller Alfred Yuson den Mann, der die Avantgarde-Kunst-Szene Manilas seit den siebziger Jahren geprägt hat wie kein zweiter: José Ramón Bosch y Roensch, genannt Pepito, verstorben am 24. November 1994. Die Schlagzeile über Yusons Nachruf für Pepito Bosch in der Tageszeitung Philippine Daily Inquirer lautete: »Ein Tod in der Familie«.
Pepito Bosch hatte eine schier endlos verzweigte Künstlerfamilie um sich geschart. Und auch Yuson hatte dazu gehört. Yusons Gedichte standen in Pepitos Regal neben philosophischen Schriften von Wittgenstein und Büchern von Allen Ginsberg. Poetisch beschreibt der Lyriker Yuson, wie er eines Nachts von Pepitos Tod erfuhr: »Er verwandelte sich in einen Cory-gelben Schmetterling und stattete mir um drei Uhr morgens einen Besuch ab. Nicht als Motte, nein, als ein wunderlicher Nachtfalter. Behindert von einem verletzten rechten Flügel flatterte er ziellos durch das Wohnzimmer, bevor er sich auf einer Scheibe der Patiotür niederließ. Die Erscheinung konnte als Vorwurf gemeint sein, weil ich nicht am Ritual seiner Einäscherung teilgenommen hatte und nicht zu seiner wochenlangen Totenfeier gekommen war. Aber wahrscheinlich war es nur Pepitos Art, Lebewohl zu sagen. Als er sich niedergelassen hatte, eingerahmt vom Dunkel des Hinterhofes, sagte ich, hallo Pepito, entschuldige, dass ich zu beschäftigt war, um dich zu begleiten. Aber Dank dafür, dass du gekommen bist. Nun denn: Gute Nacht und adieu, lieber Freund.«
Ich habe Pepito erst im Alter von 54 Jahren, zwei Monate vor seinem Tod, kennen gelernt, einen hageren, schlaksigen Typ, der mit seinem schulterlangen Haar und Bart wie eine philippinische Ausgabe von Frank Zappa aussah. Pepito war ein ruhiger, meist freundlich lächelnder Bohemien, der trotz deutlicher Spuren durchzechter Nächte beim Frühstück, hinter seiner Zeitung hervorschauend, hellwach und kenntnisreich über Literatur und Musik zu plaudern verstand. Dabei galten Pepitos Sympathien stets den Außenseitern. Kommerzielle Kulturveranstaltungen widerten ihn ebenso an wie die von Imelda Marcos erbauten Kunsttempel, in denen sie bis heute für ein kleines, zahlungskräftiges Publikum in Manila stattfinden. Pepito förderte – mit der Erbschaft seines Vaters – junge Schriftsteller, unbekannte Maler und alternative Musiker, die nicht die jeweils letzte Mode der US-Popmusik zu kopieren suchten, sondern sich von der Musiktradition ethnischer Minderheiten aus der philippinischen Provinz inspirieren ließen. Pepitos kulturelle Interessen waren so vielfältig wie seine Persönlichkeit, die selbst Freunde nur schwer zu fassen vermochten. Einer, der über ihn schreiben sollte, fragte: »Über welchen Pepito Bosch soll ich schreiben? Über den Sex-Athleten Pepito? Über den Aktiendealer? Oder über den elektronischen Musiker?«
Am späten Abend, in seinem verrauchten Zimmer, wo in einer Ecke ein Maler Kohlezeichnungen fertigte, in einer anderen Besucher zur Musik der Doors und Rolling Stones Bongos spielten, dazwischen ein Dutzend Ausgeflippter aller Art Bier, Rumflaschen und Wasserpfeifen kreisen ließen, offenbarte sich die Exzentrik dieses außergewöhnlichen Menschen Pepito. An einem dieser typischen Abende lag er auf seinem schwarzen Sofa, angetrunken und bekifft, und stimmte seine unnachahmlichen Schamanen-Gesänge an. Dann reichte er mir die Schnapsflasche und sagte: »Take it to the limit!« – »Geh bis zum Äußersten!« Das Motto des Grenzgängers Pepito Bosch, der sein Leben bewusst bis zum Äußersten ausgekostet hat. Damals wusste ich noch nicht, dass er seinem Motto bald bis in den Tod folgen würde, dass er nur zwei Monate später sein irdisches Limit erreicht haben würde.
Das Zentrum seines avantgardistischen Reiches, der Ausgangspunkt seiner nonkonformistischen Mission, war sein Haus in der Protacio-Street in Manilas Stadtteil Pasay, das seit den dreißiger Jahren zum Besitz der Familie Bosch gehört. Pasay ist eines der lebendigsten Viertel im Zentrum Manilas. Auf der Hauptstraße, der Taft-Avenue, werden jede Nacht von zwei bis sieben Uhr an Marktständen Fleisch, Obst und Gemüse feilgeboten. In den Seitenstraßen wohnen und arbeiten arme, kinderreiche Händler und Handwerker in kleinen Häuschen. Die alten Holzhäuser der Familie Bosch wirken mit den Kokospalmen in den Innenhöfen wie eine Oase der Ruhe in der brodelnden, stets lärmenden Metropole Manila. Und Pepitos Haus, das Besuchern Tag und Nacht offen stand, war schon zur Zeit der Marcos-Diktatur eine Insel der kulturellen Freiheit in einem Meer von Despotismus, Repression und Ignoranz, ein Treffpunkt für Oppositionelle und Avantgardisten jeder Couleur. Viele von ihnen kommen auch nach Pepitos Tod in sein Haus in der Protacio-Street, um Abschied von dieser »Kult-Legende« Manilas zu nehmen.
Pepitos Tod kam mit der Geschwindigkeit, mit der er gelebt hatte: Am Samstag, dem 19. November, klagt er über Atembeschwerden. Er hat eine Woche lang kaum etwas gegessen, aber – wie immer – übermäßig viel geraucht und getrunken. Plötzlich bricht sein Organismus zusammen. Als sein Bruder Tony am nächsten Morgen aus dem Krankenhaus zurückkommt, sagt er nur: »Pepito ist abgeflogen.« Sein letzter Wille hatte gelautet: Er wolle keinen Priester sehen, keine katholische Beerdigung, sondern unmittelbar nach seinem Tod eingeäschert werden. Danach solle seine Asche in der Keramikurne eines befreundeten Künstlers in seinem Zimmer aufgestellt werden und all seine Freunde und Freundinnen sollten neun Tage und Nächte lang in seinem Haus zusammenkommen, um Musik zu machen.
Und so geschieht es auch: Im Hausflur ist eine Art Tannenbaum aus aufgetürmten leeren Rumflaschen aufgebaut, und in Pepitos Zimmer ist ein besonderer Altar errichtet. In der Mitte eines braunen Holztischchens steht die Urne mit Pepitos Asche, davor eine Holzskulptur, geschnitzt von Künstlern des Ifugao-Stammes aus den Cordillera-Bergen. Sie zeigt Pepito, über eine Trommel gebeugt, einen Strauß Marihuana in der Hand. Rechts und links von der Statue stehen zwei volle Bierflaschen und zwei Gläschen mit Kokosschnaps, daneben Erinnerungsstücke an Pepito: Fotos von Pepito als Junge in Pasay, als Schüler in einer christlichen Lehranstalt, als Student der Philosophie an der Universität von Heidelberg, mit seiner deutschen Frau und seiner Tochter, mit seinen Geliebten, als Darsteller bei Happenings und Performances. Ein Foto zeigt Pepito als Schauspieler in dem Theaterstück »Marat – Sade«, ein anderes, wie er auf der Bühne stehend vor Publikum die Hosen herunterlässt. Der kleine Goldpokal auf dem Tischchen erinnert an ein Experimentalfilmfestival in Manila, bei dem Pepito als bester Schauspieler für seine Rolle in Shaman Wars ausgezeichnet wurde. Natürlich hatte er einen Schamanen gespielt.
Das überfüllte Zimmer ist nur von Kerzen beleuchtet und duftet nach Räucherstäbchen, Marihuana-Zigaretten und den Frühlingsrollen, die in der benachbarten Küche gebraten werden. In den Ecken stehen Kleiderständer mit Pepitos Jacken und Hüten, an den Wänden hängen gemalte und gezeichnete Porträts von Pepito, Geschenke befreundeter Künstler. Die Besucher dieser ungewöhnlichen Totenfeier trinken, kiffen, lachen und erzählen verrückte und lustige Geschichten von und über Pepito, oft im Präsenz, so als sitze er noch mitten unter ihnen. »Er ist ein Gigant«, sagt einer, »ein Berg. Wie sollen wir einen Berg ersetzen?« Während einige Gäste immer neue Bierkästen und Rumflaschen herbeischaffen, machen andere Musik und nutzen dabei die Instrumente, die Pepito auf seinen Reisen gesammelt hat: Von Kubing, einer Mundorgel aus Bambus, über Kulingtang, einem Xylophon-ähnlichen Instrument, das aus acht Messinggongs besteht, bis zu Kudyapi, einer zweisaitigen Gitarre aus Mindanao.
Die Teilnehmer an dieser neuntägigen Jam-Session sind so außergewöhnlich, wie es das wilde Leben desjenigen war, von dem sie Abschied nehmen. Ein Gast erzählt, er habe als Bankräuber fünf Jahre lang in einem europäischen Gefängnis gesessen, bevor er ausbrechen und sich auf die Philippinen absetzen konnte. Sein erster Kontakt in Manila war – Pepito, eine Begegnung, die sein Leben veränderte. Heute schreibt der Bankräuber Bücher.
Ein Gitarrist, der auf der Totenfeier spielt und zu den besten Rock-Musikern des Landes gehört, wurde vor Jahren von Pepito in Manilas Rotlicht-Viertel Ermita von der Straße aufgelesen. Der Musiker war damals heroinsüchtig. Pepito schaffte ihn in sein Haus, verpasste ihm eine private Entziehungskur und rettete ihm damit das Leben. Später wurde das Kind des Gitarristen in Pepitos Zimmer geboren.
Ein kauziger älterer Amerikaner in abgewetzten Jeans, der auf dem Tenorsaxophon improvisiert, diente früher einmal als GI auf der Clark Air Base der US-Luftwaffe nördlich von Manila, bis er vom Militär genug hatte und davonlief. Eine Zeitlang versteckte Pepito auch ihn in seinem Haus, denn der Deserteur wurde gesucht und der Spionage verdächtigt. Irgendwann wurde er gefasst und festgenommen, musste aber freigelassen werden, da er sich als harmloser Pazifist erwies. Seitdem – schon mehr als ein Jahrzehnt – lebt er illegal und ohne Papiere in Manila, macht Musik, fährt ein nicht angemeldetes Motorrad und hat stets 500 Pesos in der Tasche, um Polizisten bestechen zu können, sollte er jemals in eine Verkehrskontrolle geraten.
Pepito, so erzählt sein Bruder Tony, hätte stets die verrücktesten Leute in seinem Haus gehabt, darunter auch solche, die ihn betrogen und ausgeraubt hätten. Aber Pepitos Haltung sei gewesen: »Wenn sich acht von zehn Menschen, die zu mir kommen, als gut herausstellen, soll ich nur wegen der restlichen beiden schlechten meine Türen verschließen?«
Am letzten der neun Abschiedstage für Pepito wird die Session in den Hof verlegt. Das Haus ist zu klein für die mehr als hundert Besucher an diesem Abend. In den Bäumen hängen Holzmasken, beleuchtet vom flackernden Licht eines Lagerfeuers. Wieder kommen Musiker verschiedener philippinischer Bands zusammen, wieder greift jeder, der will, zu Trommeln und Gongs, um sie zu begleiten. Zwischendurch werden Kurz- und Experimentalfilme vorgeführt, in denen Pepito mitgewirkt hatte.
Einer zeigt die Hochzeit einer Stammesprinzessin in Mindanao – Pepito trommelt dazu mit Bambusstöcken. Ein zweiter Film dokumentiert die Reise verschiedener Musikgruppen zu einem Konzert in Sagada, einem Ort in den nördlichen Bergen der Philippinen. Zu den Rock- und Folksongs der Bands stimmt Pepito seine Schamanengesänge an oder tanzt – wie ein wunderlicher Nachtfalter – mit einer Bierflasche in der Hand im Scheinwerferlicht, während ein Gitarrist eine lebende Schlange auf der Bühne mit einem wilden Solo beschwört. Ein weiterer Film zeigt die Eröffnung einer alternativen Kunstgalerie in Manila, auch dies ein Projekt Pepitos. Er selbst führt durch die Räume und erklärt vor laufender Kamera, dass es vier Sorten von Kunstliebhabern gebe: erstens die professionellen Kunsthändler, zweitens die Spekulanten, die Kunst als Kapitalanlage betrachteten, drittens die, die Kunst als Statussymbol ansähen, und viertens diejenigen, die Kunst wirklich liebten. Seine Galerie sei für Letztere bestimmt. Das Problem, dass die wirklichen Kunstliebhaber oftmals nicht über das Geld verfügten, um sich die Kunst, die sie liebten, zu kaufen, umgehe seine Galerie damit, dass sie die Käufer in Naturalien zahlen lasse. »Der Reis und der Kuchen, den wir hier essen«, so Pepito in diesem Film, »stammt von Leuten, die sich in eines unserer Bilder verliebt haben und es auf ihre Weise abbezahlen.« In der Schlussszene dieses Films tritt Pepito aus der Eingangstür der Galerie und sagt: »In diesem Haus stellen wir nicht Kunst aus, hier leben wir Kunst.«
Nach der neuntägigen Totenparty, nach dieser wundervollsten aller denkbaren Abschiedsfeiern erscheint im Philippine Daily Inquirer zwischen standardisierten Todesanzeigen mit schwarzen Kreuzen und Trauerrändern folgende nicht alltägliche fröhliche Danksagung, verfasst von Pepitos Nichte, der 18-jährigen Sängerin Annabel Bosch:
»Pepito Bosch dankt all seinen Freunden, für all die Musik, die Kunst, den Spaß, das Lachen, die Liebe, die Freundschaft, die Gelage, Debatten und komischen Gespräche ... für all die Farben, mit denen sein 54 Jahre langes Leben ausgemalt war. Der Drachenkönig erweist euch seine Liebe und Dankbarkeit dafür, dass ihr ihn auf seine beste Reise geschickt habt, auf seinen Abflug in die nächste Dimension, in das erhabene Jenseits. Er sagt euch Lebewohl für den Moment und erwartet euch in eurem nächsten Leben. Spielt weiter! Singt weiter! Bis zum Äußersten! Take it to the limit! Noch ein Mal.«
(Printfassung eines von mehreren Sendern ausgestrahlten Rundfunkfeatures, publiziert in: Schwarzer Faden, Nr. 54, März 1995)

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